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Codewort: Gelassenheit

Das Ende des Erregungsbogens und das Erstarken eines neuen, von den eigenen Werten überzeugten Selbstbewusstseins: Europa reagiert auf die Anschläge von London demonstrativ unhysterisch. Und das ist auch gut so: Denn den Terror besiegen, heißt zunächst, mit ihm leben zu lernen

Gelassenheit heißt, auszusteigen aus der Logik der Zuspitzung, die dem Terror neue Energien zuführt

von ROBERT MISIK

Von dem liberalen amerikanischen Essayisten Michael Ignatieff stammt der hübsche, aber vielleicht irreführende Satz: Wenn die Terroristen den Eifelturm – und nicht das New Yorker World Trade Center – zerstört hätten, dann wäre Frankreich jetzt im Irak. Dann würde auch das alte Europa seine Präventivkriege führen, leicht hysterisch um sich schlagen, arabisch aussehende Männer vorsorglich in Haft nehmen. Erst schießen, dann Fragen stellen, sozusagen. Europa, so Ignatieff vergangenes Jahr, lebt eben noch in einer Prä-9/11-Ära, der Rest der Welt, vor allem natürlich die USA, in einer Post-9/11-Ära.

Nun hat sich im vergangenen Jahr einiges verändert. Erst die Anschläge von Madrid, dann der Mord an Theo van Gogh in Amsterdam. In medial konstruierten Wirklichkeiten ist freilich, wie wir alle wissen, nicht so sehr der Gewaltakt wirksam (außer für die unmittelbar Betroffenen, also für die Toten und Verletzten), sondern das, was im nachfolgenden Diskurs daraus gemacht wird. Nach Madrid hieß es: Der Terror kommt in Europa an. Nach Amsterdam: Der Multikulturalismus ist gescheitert. Zusammen: Wir haben uns mit der Immigration das Mittelalter ins Haus geholt. Der Feind sitzt uns im Nacken.

Doch scheint der Zenit des Erregungsbogens damit auch überschritten zu sein. Denn das Schlüsselwort nach der Terrorattacke auf Tube und Bus in London lautet jetzt: Gelassenheit. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. Selten kommt ein Terroranschlag völlig aus dem Nichts, aber wohl noch nie in der Geschichte war er derart erwartet worden wie dieser. „When not if“ – nicht ob, sondern wann ein Anschlag auch die Londoner Innenstadt treffen würde, sei die Frage – diese Formulierung hatte sich längst durchgesetzt. So schleppten sich die Überlebenden aus den U-Bahn-Schächten, schippten sich die Asche von den Schultern, gingen ins nächste Starbucks und sagten druckreif in die TV-Kameras: „Es war nur eine Frage der Zeit. Früher oder später musste es hier passieren.“ Oder: „Damit haben wir doch täglich gerechnet.“

Gewiss kann man einwenden, London sei relativ glimpflich davongekommen – 50 Todesopfer sind qualitativ etwas anderes als 200 Tote (wie in Madrid) oder 3.000 Tote (wie in New York). Da der neue Terrorismus auf den maximalen Schrecken abzielt, ist der „Body Count“ schon auch entscheidend. Aber dennoch: Ein Massaker mit 50 Toten ist andererseits nicht ein Geschehen, dem gegenüber Gelassenheit die natürliche Reaktion ist.

Schon feiert die Welt die Briten und die Briten feiern sich. „Geradezu vorbildlich“ und „mit erstaunlicher Ruhe“ erträgt das Land den Terror, kommentiert etwa die Süddeutsche Zeitung, und der Guardian gibt sich in seinem Leitartikel ganz ergriffen von der „Ruhe und Courage“ der Briten angesichts der Gefahr.

Jetzt werden historische Erinnerungen wachgerufen. An die Ausflügler, die im Zweiten Weltkrieg in den britischen Seebädern ungerührt am Strand lagen, Ferngläser in der Hand, während über ihnen die Bomber der deutschen Luftwaffe gegen London dahinbrausten. Diese Lässigkeit war ja nicht Ausdruck einer Indifferenz, sondern selbst ein Widerstandsakt. Die Ferien an der Küste waren Teil eines Way of Life, und wenn man sich diesen nehmen ließe, hätte der Feind schon seinen ersten, womöglich entscheidenden Sieg errungen.

Es ist diese Haltung angesichts der Bedrohung durch den islamistischen Terror, die tatsächlich etwas Angemessenes, Vorbildliches hat. Weil man den liberalen Rechtsstaat nicht verteidigen kann, indem man Bedrohungen mit einem Hochsicherheitsstaat schon im Keim erstickt; weil man die westliche Moderne, mit ihrer Achtung vor dem Einzelnen und dem Respekt der Differenz nicht gegen ihre Feinde schützen kann, indem man Muslime unter Generalverdacht stellt; weil sich die postheroischen Gesellschaften mit verallgemeinerten Ausnahmezustand nicht vertragen – weil dies alles nicht geht, müssen wir eben mit dem Risiko einen Modus Vivendi finden. Es ist durch polizeiliche und geheimdienstliche Maßnahmen minimierbar. Das hat gerade das britische Beispiel gezeigt: Viele Komplotte für Anschläge konnte die britische Polizei, in Kooperation mit ausländischen Diensten, vereiteln. Aber das Risiko ist nicht völlig auszuschließen. Um den Terror zu besiegen, muss man mit ihm leben lernen.

„Heroische Gelassenheit“ nennt das der Berliner Politikwissenschafter Herfried Münkler. Der Terrorismus zielt auf maximalen Schrecken ab. Er will nicht ausgesuchte Mächtige aus dem Weg räumen, sondern so viele normale Menschen wie möglich in den Tod reißen. Er will Panik verbreiten. „Diese Methode“, so Münkler, „setzt dort an, wo unsere Gesellschaften hochgradig verletzlich sind und durch Medien in einen hysterischen Zustand versetzt werden.“ Attacken „ohne Weinerlichkeit und Wehleidigkeit“ zu ertragen, heißt aus solcher Perspektive schon, dem Terror die Spitze zu nehmen. Gelassenheit heißt, aus der Logik der Zuspitzung auszusteigen, aus jener Logik, die dem Terror neue Energien zuführt. Hysterische und maßlose Reaktionen auf ihre Akte sind es, womit die Dschihadis kalkulieren. Offene Gesellschaften in eine Wagenburgmentalität zu bomben, ist Teil ihrer Rechnung. Gewiss hebt man mit Gelassenheit nicht die lose verbundenen Zellen aus, die Terrorakte vorbereiten, aber man trocknet den Humus aus, aus dem ihre Unterstützerszene wächst.

Man kann dies Gewöhnung nennen; natürlich ist Gelassenheit von Gefühlsarmut nicht immer leicht zu trennen. Bilder von zerschundenen Verletzten und von zerrissenen Leichen haben wir in den vergangenen Jahren häufig gesehen. So reagieren wir ungerührter, je inflationärer sie uns in die Wohnzimmer geliefert werden. Doch die neue Gelassenheit ist doch primär das Resultat eines Lernprozesses, den buchstäblich jeder westliche Metropolenbewohner durchmachen musste. Wir wissen heute, dass wir ein Risiko eingehen, wenn wir in eine U-Bahn steigen. Herrenlose Gepäckstücke versetzen uns in Alarmzustand. Wir wissen aber auch, dass das Risiko nicht allzu hoch ist. Es ist in Europa wahrscheinlicher, im Straßenverkehr umzukommen als durch einen terroristischen Anschlag.

Die Anschläge werden von mal zu mal auch weniger raffiniert und in ihrer Wirkung begrenzter. Der polizeiliche Druck auf die Dschihadis wirkt. Sie wären heute auch in ihren Kreisen isolierter, hätte der Irakfeldzug ihr Weltbild nicht in Teilen der islamischen Welt bestätigt. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass der dschihadistische Todestrip in zehn Jahren Geschichte ist. Bis dahin wird es noch ein paar Anschläge geben. Das Problem an den liberalen „Falken“, die insbesondere nach dem Mord an Theo van Gogh den Ton der Debatte bestimmten, ist nicht, dass sie den Liberalismus – „unsere Werte“ – gegen Anhänger einer Doktrin verteidigen, die die moderne Gesellschaft nach dem Vorbild einer Wüstenkriegerordnung aus dem siebten Jahrhundert formen wollen; das Problem ist, dass man die Werte einer liberalen, auf dem Respekt vor Differenz beruhenden Gesellschaftsform am besten verteidigt, indem man einerseits diese Werte auch in gefährdeten Momenten hochhält, und indem man sie in dem Selbstbewusstsein vertritt, dass diese Werte sich mit Gewissheit behaupten werden.

Ein anderes Wort für dieses Selbstbewusstsein ist: Gelassenheit.

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