Dirty Projectors Konzert in Hamburg: Krisenreport mit Calypso-Feeling
Dave Longstreth war am Donnerstag in der Elbphilharmonie. Er spielte frei nach Gustav Mahler einen „Song of the Earth in Crisis“ an.
Krisen sind nicht immer offensichtlich. Auch die des Planeten Erde drängte sich am Donnerstagabend in der Elbphilharmonie Hamburg nicht sofort auf. Da rollt man auf dem Weg zur vertonten globalen Katastrophe den Glitzertunnel der Elbphilharmonie hinauf, landet vor diesem Panoramafenster mit weiter Elbe und weißen Schiffen. Aus 25 Meter Höhe, in Augustsonne gegossen, fühlt sich dann doch alles gar nicht so schlimm an. Jetzt bloß nicht noch raus auf die Plaza und verklärt über den Hafen gaffen. Schließlich gibt es Probleme.
Ein Planet in der Krise ist das Thema. Dave Longstreth, musikalischer Architekt der eigenwilligen New Yorker Band Dirty Projectors, hat es ausgegeben. Trotz norddeutschen Zwischenhochs passt es in diese Woche wie in nahezu jede der vergangenen Jahre: Am Montag erst bestätigte der Weltklimarat IPCC, dass die Konsequenzen der Erderhitzung immer deutlicher werden, die bisherigen Anstrengungen weit hinter dem Nötigen bleiben. Wie um die ohnehin eindringlichen Warnungen der Wissenschaft zu unterstreichen, brennt es in Süd- und Südwesteuropa, werden im Ahrtal noch immer Trümmer geräumt. Neue Hiobsbotschaften vom Artensterben waren da gar nicht nötig.
Longstreth treibt die Sache um. Vielleicht weil er inzwischen 40 ist und eine Tochter hat, vielleicht weil es alle beschäftigt, die nur ein klein wenig weiter denken. Für das europäische Ensemble Stargaze und dessen Dirigent André de Ridder hat er deshalb den Songzyklus „Song of the Earth in Crisis“ komponiert. Es ist seine erste Komposition für ein klassisches Ensemble, das in Hamburg uraufgeführt wurde.
Zweiklang des Werdens und Vergehens
Es ist so etwas wie eine Neuauflage von Gustav Mahlers „Lied von der Erde“. Anfang des 20. Jahrhunderts verband Mahler persönliche Schicksalsschläge mit dem ewigen Zweiklang des Werdens und Vergehens zu einem musikalisch schillernden Exkurs über die Vielfalt menschlicher und natürlicher Existenz. Mehr aufmerksame Zustandsbeschreibung als Ode. Von der Erde, nicht für sie. Daran orientiert Longstreth sich.
Schnell wird die naheliegende Idee verworfen, dem Versiegeln und Roden, Explorieren und Kontaminieren des Anthropozäns eine kakophonische Entsprechung zu geben. Wer braucht schon ästhetische Dystopie, wenn die reale immer erkennbarer wird?
Die gut einstündige, von Longstreth entworfene und von De Ridder geleitete Reise folgt in gleichen Teilen Mahler und den Dirty Projectors. Diesmal also hat die oft so bizarr anmutende Mischung des Elphi-Publikums aus grau meliertem Hochkulturadel und Indie-Schlunz seine Berechtigung. Wie das „Lied von der Erde“ gliedert sich die Dramatik des Zyklus in sechs Teile, pendelt zwischen Mahnung, Trauer und Hoffnung. Das Stück sei weniger ein „Lied über die krisengeschüttelte Erde“, sagt Longstreth, als vielmehr „ein Gebet, dass wir es besser machen, unser Chaos wieder in Ordnung bringen“.
Musikalisch ist Ordnung die falsche Kategorie für diesen Abend, für Dirty Projectors sowieso. Es geht bei diesem Auftritt um Hybridität (die hohen Vibrafon- und Marimba-Anteile bringen leichte Calypso-Anklänge in die Nähe grollender Bässe), Integration (der warme R&B-Gesang von Felicia Douglass steht neben hochdynamischen Passagen, in denen De Ridder sein Ensemble aus vollem Lauf stoppt) und natürlich geht es um Longstreths umfängliches Musikverständnis.
Nach den ersten klassisch komponierten Stücken auf der 2020 veröffentlichten EP „Earth Crisis“, die den Abend eröffneten, trägt dieser Zyklus seine Musik endgültig aus jedem auch noch so breiten „Indie“-Kontext. Die beiden minimalistischen Songs, die er nach dem Intro alleine mit Gitarre vorträgt, unterstreichen nur die Kluft zwischen seiner Band und diesem Abend. Dave Longstreth ist musikalisch heimatlos – und es macht Spaß, ihm dabei zuzuhören.
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