: Lebensraum der Liebe zur Welt
Im Verein ist Kunst am schönsten (11): Kunstvereine zählen seit 2021 zum immateriellen Weltkulturerbe. Ihre Arbeit macht Gegenwartskunst für jeden erfahrbar – noch bevor sie im Museum einstaubt. Und jeder hat seine ganz eigene Geschichte: Die taz erkundet ihren Beitrag zum norddeutschen Kulturleben. Diesmal: Hannovers Kestner-Gesellschaft
Von Bettina Maria Brosowsky
Alles scheint hier im Umbruch: mit Adam Budak kam im November letzten Jahres ein selbstbewusster neuer Direktor zur Kestner-Gesellschaft in Hannover. Seit Juli hat sie auch eine neue Geschäftsführerin, und nach mehr als einem Jahr Coronabetrieb sind sowieso alte Verlässlichkeiten dahin: So empfängt einen im Foyer der zum Ausstellungshaus umgebauten Damenschwimmhalle an der Goseriede 11, seit 1997 Domizil der Kestner-Gesellschaft, das ansehnliche Angebot eines Berliner Buchhandels mit Titeln von Hannah Arendt, Roland Barthes und aktuellen Philosophen, aber auch der polnischen Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk.
Man entdeckt auch Spielzeug im Angebot oder ein Seifenobjekt des österreichischen Künstlers Erwin Wurm, dienlich, „um sich den Schmutz unserer Zeit abzuwaschen“. Etwas abgerupfte Grünpflanzen stehen zwischen den Büchertischen, frische Blumen, immer dienstags geliefert, wie man erfährt, in der Vase.
Dieses Setting ist natürlich wohl überlegt und Teil einer Offensive Budaks, das Haus zu öffnen, „gastfreundlich“ zu machen, so sein Anliegen. Und dazu gehört eben auch, „obdachlosen“ Zimmerpflanzen aus einem benachbarten Abriss ein neues Zuhause zu geben.
Als „Blitzstrahl in der Dunkelheit der nordwestdeutschen Ebene“ feierte die lokale Presse 1916 die frisch gegründete Kestner-Gesellschaft, sie erhebe Hannover gar zur Kunsthauptstadt. Schon der Name war Programm, bezog er sich doch auf den kunstaffinen Sprössling einer alteingesessenen Familie, den hannoverschen Gesandtschaftssekretär beim Vatikan, August Kestner (1777–1853).
Er hatte bereits 1819 in Erwägung gezogen, seine Sammlung archäologischer wie kunsthistorischer Objekte öffentlich zugänglich machen. Sie bildete dann allerdings erst wesentlich später den Grundstock des 1889 eröffneten Kestner-Museums – heute, um Verwechslung auszuschließen: Museum August Kestner. Zu den honorigen Stiftern und den 74 Gründungsmitgliedern des zweiten Hannoverschen Kunstvereins, allesamt Angehörige der lokalen wirtschaftlichen und intellektuellen Elite, zählte auch eine Handvoll Frauen – immerhin zwei Jahre, bevor sie das allgemeine Wahlrecht und den vollen Zugang zu Universitäten und Kunstakademien erhielten.
Dieser progressive Habitus spiegelte sich zu Beginn der Kestner-Gesellschaft allerdings nur bedingt in ihrem Programm wider. Denn statt die Konfrontation zu suchen, galt etwa die erste Ausstellung, daheim beim Gründungsdirektor, dem Kunsthistoriker Paul Erich Küppers, dem deutschen Altmeister Max Liebermann. Das hätte auch den Geschmack von Oberstadtdirektor Heinrich Tramm und des von ihm dominierten Kunstvereins getroffen, dem die Kestner-Gesellschaft eigentlich den frischen Wind der internationalen Moderne entgegenzuhalten gedachte.
Der aber wurde erst in den Jahren der Weimarer Republik zur wirklich steifen Brise, trotz wirtschaftlicher Flaute mehrerer Inflationen. Neben der Kunst holten zeitgenössische Fotografie, Film, das Bauhaus oder die Architektur von Walter Gropius prominente Vertreter:innen der internationalen Avantgarde an die Leine. Der russische Konstruktivist El Lissitzky bezog im Dachatelier über der Kestner-Gesellschaft Quartier, sie brachte 1923 dann sechs Lithografien seiner Proun genannten geometrischen Kompositionen als erste „Kestnermappe“ heraus.
Im Gegenzug musste man eine Weile ohne künstlerischen Direktor auskommen, das Haus wurde ehrenamtlich von Alexander Dorner vom Provinzialmuseum geleitet. Dessen Credo eines lebendigen Museums und der Kunst als Energie spendendem „Kraftwerk“ gehört ebenso zum Vermächtnis der Kestner-Gesellschaft wie seine selbst veranlasste Schließung während des NS-Regimes oder die legendäre Regentschaft Carl Haenleins zwischen 1974 und 2002.
Letztere war laut Budak die glamouröseste Zeit: zwei Beuys-Ausstellungen, eine als Tournee unter anderem nach Barcelona, St. Petersburg und Moskau, oder 1986 die frühe, wenn nicht gar erste Personale des Schwarzen US-Künstlers Jean-Michel Basquiat in Deutschland.
Angesichts derartiger Historie könnte er die nächsten Jahre eigentlich immer auf ein Jubiläum zurückgreifen, lacht Budak, 2023 wird sich die Kestner-Gesellschaft jedenfalls wieder mit El Lissitzky befassen. So, wie sie zum 100. Geburtstag von Joseph Beuys auf die zwei eigenen Ausstellungen zurückblickte, ergänzt um die Sonderpräsentation von Susan Hiller: „Hommage to Joseph Beuys: First Aid“.
Über 40 Jahre lang sammelte die US-amerikanische Künstler-Archivarin weltweit Weihwasser von heiligen Stätten, Brunnen und Bächen und stellte ihre Proben, in Glasflaschen, in antiquierten, mit Filz ausgeschlagenen Medizinschränken zur Schau. Und zum diesjährigen Tag der Architektur Ende Juni lud Budak zum Vortrag über den Architekten Otto Haesler, radikaler Vertreter des „Neuen Bauens“ der Zwischenkriegsjahre. Ihm galt 1932 eine Ausstellung mit Katalog in der Kestner-Gesellschaft – ein Jahr bevor er sein Büro in Celle aufgeben musste.
Architektur, auch diejenige im Dienste der eigenen Institution, scheint Budak besonders am Herzen zu liegen. Mit dem Haus hat er einiges vor, so man ihn denn lässt. Das Erdgeschoss soll kostenfrei zugänglich werden, die Fassade ein Ausstellungsort. Er verbannte das Plastikbanner mit schnöden Ankündigungen, lässt die Milchglasfront von wechselnden Künstler:innen mit konzeptuellen Leuchtschriften bespielen. Eine Cafeteria im Obergeschoss wäre schön, geöffnet für den Blick hinaus in die wenig gastliche Umgebung: Verwaltung, Schnellgastronomie, Rotlicht.
Mit 2.500 Mitgliedern und zwölf festen Stellen gehört die Kestner-Gesellschaft zu den größten Kunstvereinen in Deutschland. Sie wird direkt vom Land Niedersachsen gefördert, nicht über seine schmalen Zuschüsse zu Jahresprogrammen. Wobei allerdings auch dieser Etat stagniert, auf dem Niveau der 1990er-Jahre. „Peinlich“, meint Budak. Deshalb erzählt er auch weniger von kommenden Ausstellungen als von der Vision seines Hauses als einer „Nach-Institution“: ein Lebensraum der Liebe zur Welt, eine Institution des zärtlichen Erzählens und der aktiven Beziehung zur Kunst. Diese soll sich in Tiefe und Reichhaltigkeit entfalten können – und Budak will zu alldem „verführen“. Zu schön, um wahr zu werden?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen