piwik no script img

Ein Hoch auf das FestnetzMutter aus Kalkutta

87 Prozent der 50- bis-69-Jährigen in Deutschland nutzen das Festnetz. Nicht grundlos, weiß unser Autor. Es dient Müttern, Indern und zum Handysuchen.

Außer Mutter rufen eigentlich nur Betrüger auf dem Festnetz an Foto: Birgit Reitz-Hofmann/imago

„Motter“, rufe ich jedes Mal quer durch den Raum, wenn bei meiner Frau das Festnetztelefon klingelt, in Anspielung auf Norman Bates’ deutsche Synchronstimme in „Psycho“. Zum einen, um hier eine Kostprobe meines Scharfsinns zu geben, und zum anderen, um unzulässige Parallelen zwischen der realen und der Filmsituation zu konstruieren. Vermutlich klinge ich aber eher wie Hitler.

Laut Umfrage des Marktforschungsinstituts Innofact AG nutzen noch 87 Prozent der 50- bis 69-Jährigen in Deutschland das Festnetz. Die noch ältere Altersgruppe, zu der ihre und meine Eltern gehören, ist gar nicht mehr erfasst. Ich tippe, ach was, ich wette auf 100 Prozent. Die ungebremste Popularität des Festnetzes sagt natürlich auch einiges über die Altersstruktur der Bevölkerung aus.

Es ist dann natürlich ihre Mutter. Wer auch sonst? Da blieben allenfalls noch unliebsame Telefondrücker. Ich weiß ja nicht, was das wiederum über unsere Eltern sagt, aber außer denen rufen eigentlich nur Betrüger auf dem Festnetz an. So wie jetzt gerade bei mir. Ich wundere mich schon über das Klingeln, weil meine Mutter doch zu dieser Zeit immer Mittagsschlaf hält. Doch am anderen Ende der Leitung meldet sich ein unbekannter Anrufer auf Englisch.

Ah, das ist indisches Englisch, das hör ich ja total gern. Ich liebe die US-amerikanische Netflix-Serie „Never have I ever…“, die im indischen Migrantenmilieu spielt. Sofort bin ich extrem wohlgesinnt.

Wen ich anrufe? Mich selbst

Ich solle meinen Laptop hochfahren, bittet der Inder. Ist schon hoch, sage ich, „already high“. Kurze Stille auf der anderen Seite, in Mumbay oder Kalkutta. „Tante Jutta aus Kalkutta“, fällt mir spontan dazu ein – was war denn das gleich noch mal? „Ein dümmlicher Schwank, vollgestopft mit hanebüchenem Klamauk“, schreibt das Lexikon des Internationalen Films, schreibt Wikipedia, sagt das Internet. Bei dem ist das Festnetztelefon ja meist im Preispaket inklusive. Deshalb haben auch viele Junge noch Festnetz, auch wenn sie laut Innofact ihre eigene Nummer oft nicht mehr kennen. Ich kenne ja nur meine über tausend Umzüge hinweg mitgeschleppte Uraltnummer; welche bei anderen im Display erscheint, weiß ich hingegen nicht.

Von zu Hause aus rufe auch ich bisweilen übers Festnetz an. Und zwar mich selbst. Denn die Umfrage erfasst nicht, zu welchem Zweck das Festnetz überhaupt genutzt wird. In den Altersgruppen mit noch deutlich zweistelligen Lebensjahren greift man nämlich in erster Linie zum Vintage-Hörer, um einen Suchanruf an das eigene, unter irgendwelchem Krimskrams verbuddelte Mobiltelefon zu starten. Gerne würde ich auch meine Brille anrufen, denn ohne Brille ist die noch schwerer zu finden als das Handy. Und den Korkenzieher möchte ich manchmal sprechen.

Leider geht das alles nicht. Was ebenfalls nicht funktioniert, ist das Mobilfunknetz. Dessen schwacher Zustand ist für immerhin 20 Prozent der 18- bis 29-Jährigen der Grund, das Festnetz zu nutzen. Deutschland liegt noch immer tief im digitalen Dornröschenschlaf; die ganze Welt spottet über uns.

Vielleicht versucht der indische Anrufer deshalb in mittlerweile erstaunlich rüdem Ton, mich zum Ändern diverser Sicherheitseinstellungen und zum Hochladen von Apps zu bewegen. Er wird schon wissen, was gut für mich ist; die Inder sollen ja recht fit in solchen Dingen sein. Aber ich eben leider nicht, daher wünschte ich, er wäre etwas geduldiger mit mir. Darunter leidet schließlich meine Wohlgesinnung, und ich beende das Gespräch. Ich muss sowieso die Leitung freimachen, denn bestimmt ruft Mutter bald an.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

6 Kommentare

 / 
  • Tja nun...



    Ich nutze ebenfalls das Festnetz und habe privat kein "Smart"phone oder ähnliches. Warum?



    Ich will und muss nicht ständig überall erreichbar sein oder andere erreichen müssen oder dauernd irgendwelche unwichtigen Nachrichten lesen/schreiben. Auch habe ich keine Lust auf permanentes Tracking und Apps, die ich kaum kontrollieren kann.



    Bin ich daheim, gehe ich ans Telefon, wenn es klingelt. Bin ich nicht daheim, kann man eine Nachricht hinterlassen. Es gibt praktisch nichts, was so dringend ist, dass es nicht ein paar Stunden warten kann.



    Es ist für mich durchaus auch ein Mittel der Entschleunigung und Präferenzierung. Es hebt meine Lebensqualität.



    Sprich: eine sehr bewußte Entscheidung, das so beizubehalten.



    Der Autor dagegen scheint nicht wirklich nachgedacht zu haben.

    • 6G
      68514 (Profil gelöscht)
      @Grummelpummel:

      Ein Smartphone kann man auch daheim liegen lassen. Immerhin ist ja niemand verpflichtet, dies immer bei sich zu tragen. :-) Ändern tut sich dabei lediglich in der Diskussion mit Anderen was. Denn die fragen dann nicht mehr "Wann schaffst du dir ein Smartphone an?" sondern "Warum lässt du das Ding denn immer zu Hause liegen?". Ob die eigene Erklärung dann akzeptiert wird bleibt abzuwarten. ;-)

      • @68514 (Profil gelöscht):

        Ach, diskutieren muss man darüber ja nicht wirklich. Meine Entscheidung ist fundiert, ich teile sie auf Wunsch mit, fertig.



        Ähnlich ist es bei, in meinen Augen, Dummfug wie Siri, Alexa und Konsorten. Brauch ich nicht, deswegen hab ich es auch nicht. Meine Einkaufszettel kann ich noch von Hand schreiben, ich weiß noch, wie man einen Lichtschalter oder eine Stereoanlage bedient oder Musik im WWW sucht und findet.

  • Köstlich!

  • "Ich kann Sie gar nicht verstehen! Die Verbindung rauscht so!"



    "Ja, ich bin hier auf der Arbeit, hier gibt es noch kein D2-Netz..."