Gewalttätiger Konflikt in Äthiopien: Die Nacht der Brandstifter
Früher lebten die Leute in Ataye friedlich zusammen. Jetzt ist der Ort zerstört. Wie ein lokaler Konflikt die Ethnien Äthiopiens auseinandertreibt.
A taye ist ein typisches äthiopisches Städtchen im Hochgebirge mit einer Kirche in der Nähe einer Moschee, Grund- und Oberschulen und einem Krankenhaus. Die Durchgangsstraße, die Ataye durchschneidet, kommt aus Äthiopiens 300 Kilometer südlich gelegener Hauptstadt Addis Abeba und schlängelt sich mit unzähligen Kurven nach Norden in Richtung der Bürgerkriegsprovinz Tigray. Autos teilen sich die Fahrbahn mit Frauen, die zu Fuß gehen und schwere Lasten auf dem Rücken tragen, Männern zu Pferd und Herden von Schafen und Kühen.
In Ataye selbst sind derzeit aber kaum Menschen oder Tiere auf der Straße zu sehen und es ist ungewöhnlich still, wie in einer Geisterstadt. Die Straße wird hier auf beiden Seiten von ausgebrannten Häusern und Geschäften flankiert. Von einigen steht noch eine Mauer, von anderen nur noch das Fundament mit einer dicken Ascheschicht. Überall stapeln sich Wellblechhaufen, die einst Dächer waren. Nur die Kirche, die Moschee, die Schulen und das Krankenhaus sind den Flammen entkommen.
Ataye ist ein Beispiel dafür, wie bewaffnete Konflikte sich inzwischen in immer mehr Landesteilen Äthiopiens ausbreiten. Die internationale Aufmerksamkeit konzentriert sich auf Tigray, wo Äthiopiens Armee seit November 2020 gegen die dort herrschende TPLF (Volksbefreiungsfront Tigray) kämpft und vor wenigen Wochen geschlagen abziehen musste. Aber im Schatten dieses Konflikts brechen auch die anderen Konfliktlinien des Landes mit Gewalt auf.
Yeshamie Destage wird die Nacht des 16. April in Ataye nie vergessen. Die 60-Jährige aus der Volksgruppe der Amhara war gerade zu Bett gegangen, als sie Schüsse hörte. „Ich wusste, was das bedeutete, weil im März schon ein nahe gelegenes Amhara-Dorf angegriffen worden war“, sagt sie. „Ich zog mich schnell an und floh mit anderen Richtung Norden, denn das ist die einzige Straße, die nicht durch Oromo-Dörfer führt.“
Die meisten Einwohner sind geflohen
Ataye ist ethnisch gemischt. Sowohl Amhara als auch Oromo leben hier – die beiden größten Ethnien Äthiopiens, das als Bundesrepublik in ethnisch definierte Regionen gegliedert ist. Die Stadt liegt in der Amhara-Region, jedoch innerhalb einer abgegrenzten Sonderzone, in der überwiegend Oromo leben. In Ataye selbst leben beide Volksgruppen.
In der besagten Nacht im April kamen laut Augenzeugen Hunderte bewaffnete Männer von drei Seiten nach Ataye hinein. Ziel des Angriffs, erzählen Einwohner, waren die Amhara der Stadt. Zuvor hatten Sicherheitskräfte der Amhara einen Oromo-Ladenbesitzer getötet. Am Ende waren etwa 200 Menschen tot und mindestens 1.500 Gebäude in Brand gesteckt. Die meisten der 55.000 Einwohner flohen und sind bis heute nicht zurückgekehrt.
Yeshamie lief in der Aprilnacht 17 Kilometer zu Fuß nach Ber Gibi, wo die schwächsten Flüchtlinge in der Grundschule Aufnahme fanden – andere mussten weiterziehen. Die Witwe ist inzwischen nach Ataye zurückgekehrt, aber nicht in ihr Haus. „Davon ist nichts mehr übrig“, sagt sie mit zitternder Stimme. Sie hatte das Haus vom Staat gemietet, für umgerechnet 1,5 Eurocent. „Ich war arm, deshalb durfte ich so ein Haus mieten, aber jetzt habe ich gar nichts mehr. Ich kann nur hoffen, dass die Regierung neue Häuser bauen wird.“
Nun lebt die Yeshamie mit Dutzenden Frauen, Kindern und Babys in großen Zelten des UN-Kinderhilfswerks Unicef auf dem Fußballplatz der Oberschule in Ataye. In den Zelten ist es tagsüber heiß und nachts kalt. Die meisten Zeltbewohner haben nicht mehr als eine Matratze, eine Decke und eine Plastiktüte mit gespendeter Kleidung. Sie sind auf die Lebensmittelversorgung der lokalen Regierung angewiesen und klagen, dass diese nicht ausreicht. Manche bekommen Essen von der Familie geschickt, aber Yeshamie, die drei Kinder hat, bekommt nichts extra. Ihre Töchter leben weit weg und sind ebenfalls arm.
Besser dran ist Abraham Kagnaw. Seine fünf Geschwister und seine Mutter, die in anderen Teilen der Amhara-Region leben, schicken gelegentlich Essen. „Ich war nach Ataye gekommen, weil meine Frau von hier ist“, sagt der 26-Jährige und läuft zum zweistöckigen steinernen Schulgebäude, wo er mit anderen Männern in den Klassenzimmern lebt – die Frauen müssen draußen in den Zelten bleiben, auch seine eigene Ehefrau.
Vor dem Angriff hatte Abraham einen Kiosk für gebrauchte Kleidung. Das brachte wenig ein, aber genug zum Leben. Nun ist nichts mehr übrig, sein Lagerbestand ist in Flammen aufgegangen und auch ihr gemietetes Zimmer liegt in Schutt und Asche. Abraham holt seinen Reisepass aus der Hosentasche. „Ich habe ihn mir schnell geschnappt, bevor ich geflohen bin“, erzählt er. „Vielleicht schaffe ich es, ins Ausland zu gehen, um Arbeit zu finden. In einer leeren Stadt kann man schließlich nichts verkaufen.“
Verantwortlich für das Flüchtlingslager ist der Gemeindebeamte Oumer Endris. „Es wird höchste Zeit, dass wir Äthiopier werden und aufhören, an unserem ethnischen Hintergrund festzuhalten“, sagt er. „Hier waren Oromo die Täter und Amhara die Opfer. An anderen Orten waren die Rollen umgekehrt verteilt. Die wahren Schuldigen sind die Politiker, die aus persönlichen Gründen junge Männer zu Gewalt gegen Rivalen aufstacheln.“
Die Hauptursachen der ethnischen Konflikte in Äthiopien sind lokale Meinungsverschiedenheiten über den Besitz oder die Nutzung von Land und Wasser sowie über den Zugang zu staatlichen Ressourcen. Oft wollen Angehörige einer Ethnie die anderen von knappen Ressourcen ausschließen. Schließlich lebt ein Drittel der über 110 Millionen Äthiopier von weniger als einem Euro am Tag, und vor allem auf dem Land ist die Armut groß.
Die Konflikte lodern heftiger auf als zuvor
Äthiopiens Premierminister Abiy Ahmed, Sohn einer Amhara-Mutter und eines Oromo-Vaters, hatte nach seinem Amtsantritt 2018 versprochen, ethnische Konflikte in Äthiopien zu beenden und alle Bevölkerungsgruppen gleichzubehandeln. Aber bisher ohne großen Erfolg: Die Konflikte lodern heftiger als zuvor auf, denn jetzt nehmen überall Scharfmacher die vermeintliche Verteidigung ihrer Ethnie selbst in die Hand.
Da jede Region ihre eigene, ethnisch rekrutierte Regionalarmee hat, können daraus leicht größere bewaffnete Konflikte werden. In Grenzgebieten zwischen zwei Regionen geht es oft darum, eine ethnische Gruppe ganz zu vertreiben, damit die andere das Gebiet übernehmen kann. Das scheint auch die Absicht in Ataye gewesen zu sein.
An lokalen Gemeindeführern wie Oumer liegt es nun, diese Feuer wieder zu löschen – aber sie werden dabei alleingelassen. In Ataye haben lokale Behörden, Geistliche und Dorfälteste ein Friedenstreffen organisiert. Vertreter der Angreifer wie auch deren Opfern waren anwesend, erzählt Oumer. „Es wurde viel geredet, aber ich habe nicht den Eindruck, dass es eine Lösung gab. Wir wissen nicht mal genau, wer die Angreifer sind.“
Die Amhara-Bevölkerung glaubt, dass es eine Splittergruppe der ehemaligen Rebellenbewegung der Oromo (Oromo-Befreiungsfront) war, bekannt als OLF-Shane oder Oromo-Befreiungsarmee. Die OLF war jahrelang als angebliche Terrororganisation verboten aber wurde 2018 nach Abiys Amtsantritt wieder legalisiert. OLF-Shane sagt, sie würde mit der Waffe für die Rechte der Oromo kämpfen. Aber sie bestreitet die Verantwortung für den Angriff auf Ataye.
„Mir ist die Politik egal, ich will nur Frieden“, sagt die 28-jährige Hiwot Workye und verjagt mit ihrer Hand die Fliegen vom Gesicht ihres vier Monate alten Babys. „Seit ich meine Tochter Tarikua habe, ist mir das wichtiger als alles andere.“ Die Mutter ist eine der wenigen im Lager, die oft lächelt, meistens wenn sie sich um ihr Kind bemüht. Der Angriff auf Ataye geschah kurz nach ihrer Entbindung im Krankenhaus. Auch sie musste fliehen, aber sie bekam einen Platz in einem Auto.
Sie hofft nun, dass mehr geflohene Einwohner von Ataye bald zurückkommen. „Ich arbeitete in einem Restaurant und will das wieder tun, um für mich und Tarikua sorgen zu können“, sagt sie. „Solange es keine Kunden gibt, bleibt aber das Restaurant geschlossen.“
Ganz nah am Schulgelände steht das Krankenhaus von Ataye. Obwohl es nicht angezündet wurde, ist das kleine Gesundheitszentrum nebenan eine Ruine. Direktor Abel Gezhagu geht schweigend den Korridor auf und ab. Fast jeden Tag inspiziert er die verkohlten Mauern. In den Zimmern ist alles kaputt. „Die Angreifer haben nichts mitgenommen, sondern alles angezündet. Was nutzt das?“
Der Boden des Raumes, der als Apotheke diente, ist übersät mit zerbrochenen Flaschen, geschmolzenen Tablettenstreifen und verkohlten Scheren. In einem anderen Raum sind die Überreste von Tragen und Betten aufgestapelt. „Die Klinik war erst zehn Jahre alt und ist nicht mehr zu renovieren“, sagt Abel. „Ob und wann wir jemals Geld für eine neue bekommen, ist fraglich.“ Er ist aber froh, dass er zumindest zwei Räume im Krankenhaus als Ersatz nutzen kann.
Der Kiosk steht noch
Beim Spaziergang durch das weitgehend menschenleere Ataye hat nur eine einzige kleine Kaffeebude geöffnet. Kunden gibt es nicht. Die Eigentümerin öffnet aber jeden Tag und hat ab und zu Einwohner oder Menschen auf der Durchreise bedienen können. „Ich hatte Glück, dass mein Kiosk noch steht“, sagt sie.
Weniger Glück hatte Freninet Teshages auf der anderen Seite der breiten Straße. Die Kinder der 30-Jährigen spielen in den Trümmern ihres Hauses, zwischen geschmolzenen Plastikbechern und Glasscherben. Nur die fröhlich gelb angestrichenen Wände des Hauses stehen noch. Heute lebt Freninet mit ihrem Mann und fünf Kindern in einem Zimmer im Nachbarhaus. „Wenn ich morgens die Tür öffne, sehe ich als Erstes mein abgebranntes Haus. Und jeden Tag tut es wieder weh und ich frage mich, wie es weitergehen soll.“
Ihr Mann ist Lkw-Fahrer und war während des Angriffs unterwegs. Gleich nachdem sie die ersten Schüsse hörte, rannte sie mir ihren Kindern los. „Ich habe vierjährige Zwillinge, die die ganze Zeit weinten und schnell müde waren“, erzählt Freninet. „Glücklicherweise gab es andere Menschen, darunter auch Oromo, die mir halfen. Wenn ich nicht hätte fliehen können, wären wir jetzt sicher tot.“
Was jetzt werden soll, weiß sie nicht – wie auch die anderen zurückgekehrten Amhara fühlt sie sich auch von der eigenen Amhara-Regionalregierung alleingelassen. „Das Schlimmste ist, dass hier seit April nicht einmal zusätzliche Sicherheitskräfte stationiert worden sind. Wir sind unserem Schicksal überlassen.“
Ihr jüngster Sohn umklammert ihr Bein und fängt ohne ersichtlichen Grund an, untröstlich zu weinen. Seit dem Angriff weint er viel und will nachts nicht schlafen. „Wir sind alle traumatisiert, aber er ist der Instabilste und erschreckt bei jedem Geräusch. Außerdem ist er übermüdet, wegen Schlafmangel“, sagt Freninet. „Vielleicht sollten wir von hier weg, weg von diesen Erinnerungen. Aber wohin?“
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