piwik no script img

Der 12-jährige Gumersindo bei der Ernte Foto: Martin Zinggl

Minderjährige Erntehelfer in BolivienDie Jungen ohne Kindheit

In Bolivien helfen Minderjährige bei der Paranussernte. Was einige als „Kinderarbeit“ anklagen, ist für andere überlebenswichtig.

D er Bezirk Pando sieht aus der Luft betrachtet aus wie ein Feld voll Broccoli. Dunkelgrüner Regenwald, nur ab und an unterbrochen von einem rotbraunen Fluss oder einer braunroten Straße. Unter dem Blätterdach stapft Horfilio Villanueva an diesem Morgen über Lianen und Baumstämme, hackt mit der Machete ins ­Dickicht, Schweiß tropft ihm vom Kinn.

Hinter ihm läuft sein Neffe Ismael, die Machete über die schmale Schulter gelegt, die Turnschuhe schlammbedeckt. Seit einer Stunde streifen die beiden durch das Gestrüpp, hier im Nordosten Boliviens, kurz vor der Grenze zu Brasilien. Sie sind auf der Suche nach Paranüssen.

Abrupt bleibt Horfilio stehen. Vor ihm ein fast 2 Meter dicker Stamm, der etwa 40 Meter in die Höhe ragt. Seine Krone ist kaum zu sehen, sie liegt über dem Blätterdach der anderen Bäume. Dort hängen die Nüsse, jede etwa ein Kilogramm schwer. Unten, vor Horfilios und Ismaels Füßen: die reifen, herabgefallenen Früchte. Horfilio lehnt seine Machete an einen Stamm. „Hier bleiben wir.“

Paranusskerne gelten als „Superfood“. Viele schätzen ihren hohen Eiweiß- und Mineralstoffgehalt. Deutschland zählt zu den Hauptimporteuren weltweit, die Einfuhrmenge hat sich hierzulande während der letzten zehn Jahre fast verdreifacht. Der Großteil der importierten Kerne stammt aus dem Nordosten Boliviens – und damit von dort, wo Horfilio und sein Neffe durch den Wald laufen.

taz am wochenende

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Doch die Ernte ist gefährlich und für den zwölfjährigen Ismael eigentlich verboten. Mehrere NGOs verurteilen sie als Kinderarbeit, das US-Büro für Internationale Arbeitsbeziehungen führt sie als „worst forms of child labour“ an und das bolivianische Gesetz erlaubt sie erst ab der Volljährigkeit.

Horfilio Villanueve schultert einen 70kg schweren Sack mit Paranüssen Foto: Martin Zinggl

Horfilio Villanueva, 31 Jahre, wortkarg, mit breiten Schultern, weiß das. Er weiß auch, wie die NGOs in der Hauptstadt La Paz über die Arbeit seines Neffen denken. Wegen der Schlangenbisse, der Begegnungen mit dem Jaguar, der abgehackten Finger, der Platzwunden, der Malaria. Deshalb schiebt er Ismael auch immer wieder beiseite, wenn das Objektiv des Fotografen auf ihn gerichtet ist. „Das sehen die Importeure aus Europa nicht gern“, sagt er.

Die Fragen an den Jungen beantwortet er lieber selbst, meistens mit grimmigem Blick, der zu verstehen gibt, dass man das Thema wechseln soll. Horfilio befürchtet, dass wegen schlechter Presse die Nachfrage wegbrechen könnte. Dabei sagen vor allem diejenigen „Kinderarbeit“, die nicht hier leben. Die Menschen vor Ort betrachten ihre Arbeit aus einer anderen Perspektive. Für sie sind die Studien der NGOs und die Gesetzestexte der Regierung nur Papier.

Wessen Realität zählt mehr?

Kaum sind Horfilio und Ismael am Paranussbaum angekommen, fangen sie mit der Auflese an. Horfilio geht gebückt über den Waldboden, greift nach handballgroßen Paranüssen und wirft sie auf einem Haufen zusammen. Sein Neffe Ismael, das Basecap tief ins Gesicht gezogen, tut es ihm mit routinierten Handgriffen gleich.

Horfilio und Ismael sind „Zafreros“ – so nennen sich diejenigen, die der „Zafra“, der Ernte der Paranusskerne, nachgehen. In der einen Jahreshälfte schlägt sich Horfilio mit Gelegenheitsjobs im fünf Stunden entfernten Cobija durch, wo seine Frau und seine Tochter leben. Während der Regenzeit, von Dezember bis April, lebt er im Dorf El Turi, in der Holzhütte seiner Eltern. Bis zu zwölf Stunden geht er täglich in den Wald, seinen Neffen Ismael nimmt er mit.

Paranussbäume lassen sich nicht einfach auf Plantagen kultivieren. Bis die Samen keimen, dauert es etwa anderthalb Jahre. Bevor der Baum zum ersten Mal Früchte trägt, noch mal zehn Jahre. Das ist ein langer Zeitraum für eine Region, in der viele Familien von der Hand in den Mund leben. Deshalb streifen die Zafreros auch durch den Regenwald und sammeln die Nüsse vom Boden auf.

Bis vor wenigen Jahren herrschte noch eine Art Lehnswesen: Die Landbesitzer zahlten Geld an einen Aufpasser, der wiederum Zafreros anwarb und sie teils im Voraus bezahlte. Den Lohn mussten sie dann während der Erntezeit abarbeiten und wurden dabei nicht selten ausgebeutet. Doch seitdem die Indigenen im Zuge der Landreformen viele Flächen zurückerhielten, hat sich auch die Ernte verändert. Heute arbeiten die meisten Zafreros eigenständig und liefern ihre Ernte gegen Bargeld bei Zwischenhändlern ab, die an den Straßenrändern auf Nachschub warten.

Dort fahren die Zafreros dann im Minutentakt auf ihren Mopeds vor, mit Säcken voller Paranüsse im Gepäck. Bezahlt wird nach Gewicht. Je mehr Hände anpacken, desto mehr Geld bringen sie nach Hause. Für Lebensmittel, Benzin, Reparaturen am Haus, wie im Fall von Horfilio Villanueva, der in Cobija nicht genug verdient, um seine Familie zu ernähren. Das Geld aus der Paranussernte ist manchmal aber auch für kleine Extras gedacht, wie im Fall des Neffen Ismael, der schon lange auf ein eigenes Moped spart.

Lieferkettengesetz

Das Sorgfaltspflichtgesetz oder „Lieferkettengesetz“ verpflichtet Unternehmen zu Sorgfalt entlang der gesamten Lieferkette ihrer Produkte. Kinderarbeit, menschenunwürdige Arbeitsbedingungen oder ökologische Schäden in Produktionsländern sollen so verhindert werden. Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) nannte das im Juni beschlossene Gesetz „ein Meilenstein auf dem Weg zu mehr Gerechtigkeit“. Die Initiative Lieferkettengesetz kritisiert, dass das Gesetz vom Bundeswirtschaftsministerium auf Druck von Verbänden verwässert worden sei. So umfasse es zu wenige Unternehmen, verbiete Schadensersatzklagen und beinhalte zu viele Ausnahmen. Das Gesetz tritt Anfang 2023 für Unternehmen mit mehr als 3.000 Mit­ar­bei­te­r:in­nen in Kraft. Auch auf europäischer Ebene wird derzeit an einem Lieferkettengesetz gearbeitet.

Nach einer halben Stunde haben Ismael und Horfilio alle Nüsse aufgelesen. Nun haben sie es auf ihr Inneres abgesehen. Hinter der harten Schale liegen 15 bis 20 Paranusskerne, jeweils umhüllt von einer zweiten, dünneren Schale. Wortlos greifen Horfilio und Ismael zu den Macheten, der kräftezehrendste Teil ihrer Arbeit beginnt.

Stellt man sich die Matschpisten und Flüsse durch den Wald wie die Fäden eines Spinnennetzes vor, ist die Kleinstadt Riberalta im Nordosten des Bezirks Beni die gefräßige Spinne in der Mitte. Hier prangt die fünf Meter hohe Statue eines Zafreros auf dem größten Boulevard der Stadt, hier stehen Dutzende Verarbeitungsfabriken ausländischer Investoren, in denen Frauen bei Lärm und Hitze die Kerne sortieren, bevor sie von Maschinen geknackt und erhitzt werden.

Deutschland zählt zu den größten Importeuren von Paranusskernen.

Die Fabriken in Riberalta sind immer hungrig und die Zafreros füttern sie mit 20.000 bis 30.000 Tonnen Paranusskernen pro Jahr. Nur rund 2 Prozent davon bleiben im Land, der Rest wird exportiert. Der bolivianische Staat hat eigens eine Exportagentur mit einem Büro in Hamburg gegründet, um den Außenhandel mit Europa zu forcieren. Von deutschen Händlern und Supermarktketten werden die Paranusskerne dann verpackt und weitervertrieben, teilweise auch in andere EU-Staaten.

Trotz der finanziellen Vorteile, die so ein Export mit sich bringt, beobachtet Silvia Escóbar die Entwicklung mit Sorge. Die Forscherin arbeitet im Zentrum für Studien der Arbeits- und Landwirtschaftsentwicklung (CEDLA) am südlichen Ende von La Paz, dort wo sich Hochhäuser aneinander drängen und Anzugtragende durch Drehtüren hasten. Für das Treffen hat sie neben ihrem Kollegen Pablo Poveda am Konferenztisch Platz genommen, vor den beiden liegt ein Stapel Papiere.

Das Team von CEDLA hat bereits mehrere Studien zur Ernte von Paranusskernen veröffentlicht, eine davon trägt den Titel „Keine Zeit zum Träumen“. Der Tenor der Studie: Arbeiten Kinder bei der Ernte mit, verlieren sie ihre Kindheit.

In Riberalta hat man der Paranuss ein Denkmal gebaut Foto: Martin Zinggl

Für Silvia Escóbar liegt diese Form der Kinderarbeit vor allem in der Armut begründet. „Die Paranusskerne sind fast die einzige Einkommensquelle, die die Familien haben“, sagt sie. Es gebe kaum Industrie, kaum Geschäfte, bloß ein paar Felder. Das schaffe Abhängigkeiten, den „Druck, immer mehr aus dem Wald herauszuholen“. Um die entlegenen Paranussbäume zu erreichen, würden die Za­fre­ros Pfade durch den Wald schlagen und tief in seinem Inneren Lager mit Holzbaracken bauen, erzählt sie.

Dort würden die Männer mit ihren Söhnen dann monatelang leben. „Das sind provisorische Camps“, sagt Escóbar. „Sie improvisieren mit Zeltplanen, es gibt kein Trinkwasser, kein Licht und keine sanitären Anlagen“, fügt ihr Kollege Pablo Poveda hinzu. Niemand könne sich während dieser Monate um die Gesundheit oder Bildung der Kinder kümmern. Sie seien unter dem Dach des Waldes verschwunden. „Natürlich sollten auch Kinder lernen zu arbeiten“, sagt Silvia Escóbar. „Aber nicht so!“ Sie hat Verständnis für die prekäre Situation der Familien – doch die Kinder deshalb solchen Gefahren aussetzen? Das ist für sie und ihren Kollegen keine Lösung.

Gumersindo ist stolz auf sein Geschick. Bisher ist niemandem etwas passiert, sagt er. Doch was wirklich in ihm vorgeht, bleibt unklar.

Wie gefährlich die Ernte der Paranusskerne sein kann, erfährt man in der Schule von Riberalta. Die Rektorin hat einige Schüler zusammengerufen, die im Innenhof davon erzählen. Es sind zierliche Heranwachsende in Schuluniformen, zwischen 12 und 15 Jahren alt. „Nach dem Frühstück gehen wir von 8 Uhr morgens bis 6 Uhr abends in den Wald. Essen gibt es zwischendurch nicht“, sagt einer von ihnen. „Mich hat mal fast eine Anakonda gekriegt!“, sagt ein anderer und lacht. „Früher hatte ich Angst, heute nicht mehr“, sagt wieder einer. „Man gewöhnt sich dran“, fügt er in lässigem Tonfall hinzu – und schielt zu den Mädchen herüber, die gerade zuhören.

Während sich die Jungen mit ihren Geschichten brüsten, wirkt die Schulleiterin besorgt. „Sie verpassen viel“, sagt sie mit leiser Stimme, nachdem sie den Jungen den Rücken zugewandt hat. Manche kämen erst drei oder vier Wochen verspätet zurück aus den Ferien, weil die Ernte im Wald noch angedauert hat. Anschließend seien sie ausgelaugt. „Sie schlafen mit dem Kopf auf dem Tisch, weil sie so müde sind.“

Gegenüber der Schule liegt das Krankenhaus der Stadt. Hier misst ein Oberarzt die Gefahren der Ernte in Zeit: Es könne Stunden dauern, manchmal sogar einen ganzen Tag, bis ein Krankenwagen einen Verletzten im Wald erreiche, erzählt er. Oft sei es dann aber bereits zu spät – wenn sich zum Beispiel eine Paranuss aus der Baumkrone gelöst und eine Schädeldecke zertrümmert habe. Auch abgehackte Finger, Infektionen und Malaria gehörten zum Alltag der Zafreros. „Die Ernter gehen gesund in den Wald und kommen krank wieder heraus“, sagt der Arzt. Diesen Satz hört man hier häufiger.

Alfredo Guari zeigt die Paranusskerne in der Nuss Foto: Martin Zinggl

Das gesunde „Superfood“ macht in Bolivien krank. Die Handelsfirmen und Supermarktketten wissen von diesen Erntebedingungen – und sehen sich dennoch nicht in der Verantwortung. „Die Paranussernte ist ein hochgradig informeller Sektor“, schreibt beispielsweise Voicevale in einer Stellungnahme auf Anfrage der taz.

Das britische Unternehmen gehört zu den größten Importeuren von Paranusskernen in die EU und hält in Riberalta Anteile an einer Verarbeitungsfabrik. „Obwohl unsere Lieferanten alle Anstrengungen unternehmen, ihre Sammler dazu zu erziehen, nicht die Hilfe ihrer Kinder in Anspruch zu nehmen, wäre es falsch anzunehmen, dass dies nicht zum Teil geschieht“, gibt Voicevale zu – und offenbart mit dem „Erziehungsanspruch“ gleichzeitig ein fragwürdiges Verständnis von Zusammenarbeit.

Wir haben seit 20 Jahren keinen Staat, der in der Lage wäre, die Gesetze in der Region durchzusetzen.

Silvia Escóbar, Mitarbeiterin bei CEDLA

Und auch das Unternehmen Seeberger argumentiert mit Unwissenheit: „Wir können die Lieferkette bis zur Weiterverarbeitungsfabrik zurückverfolgen. Die Sammlung der wild wachsenden Paranüsse im Amazonas-Urwald erfolgt meist autark durch die einheimische Bevölkerung.“

Geht es um Kinderarbeit, verlassen sich die Unternehmen auf die vorgeschalteten Glieder der Lieferkette. So verweist der Discounter Lidl, der unter der Eigenmarke Alesto Paranusskerne aus Bolivien im Sortiment führt, auf den firmeneigenen „Code of Conduct“: Kinderarbeit sei darin ausgeschlossen, die Lieferanten verpflichteten sich, im Einkauf darauf zu achten.

Der Großhändler Voicevale wiederum versucht nach eigenen Angaben, mit lokalen Kontaktpersonen zusammenzuarbeiten und die Lieferkette so besser im Blick zu behalten. Zudem finanziert er eine Broschüre zur Arbeitssicherheit, die eine bolivianische NGO mit Fokus auf landwirtschaftliche Entwicklung erstellt hat.

Zu lesen ist da von Erster Hilfe bei Unfällen, Arbeitsrecht, Helmen und Gummistiefeln. An 600 Arbeiter sei sie bisher verteilt worden, teilt Voicevale mit. So wird die Verantwortung für Arbeitssicherheit und Kinderrechte immer weiter nach unten gereicht – bis hin zu jenen Familien im Regenwald, die auf die Ernte angewiesen sind. Das macht die Situation ungleich komplizierter. Denn die Vorstellung davon, was Kinderarbeit ist, gehen im Fall der Paranusskerne weit auseinander.

Die Sonne steht mittlerweile senkrecht am Himmel, Horfilio und Ismael haben sich neben die Paranüsse in den Schlamm gesetzt. Mit der linken Hand drücken sie die Nüsse auf den Boden, mit der rechten lassen sie im Sekundentakt die Macheten herabsausen. Es kracht metallisch, wenn die Klinge auf die harte Schale trifft – einen, vielleicht zwei Zentimeter von ihren Fingerkuppen entfernt.

Hoch oben: Die Krone eines Paranuss-Baums Foto: Martin Zinggl

Nach wenigen Hieben bricht die Schale auseinander. Horfilio und Ismael lassen die Paranusskerne in einen blauen Plastiksack fallen und greifen zur nächsten Nuss. Über eine Stunde wird es jetzt so gehen. Ismael wirkt gedankenverloren, während seine kleine Hand die riesige Machete steuert. Steht er in der Runde seiner erwachsenen Mitstreiter, macht es den Anschein, als habe jemand seinen Sohn spaßeshalber zum Holzfällen mitgebracht. Den Blicken Fremder weicht er eingeschüchtert aus, und doch ist da auch ein wenig Stolz in seiner Brust. Von Zwang oder Widerwillen keine Spur.

Oft begegnet man Schulterzucken bei denen, die der Vorwurf der Kinderarbeit eigentlich betrifft. Kinderarbeit? Hier? Wenn es in der Region Aufstände gibt, dann nicht dagegen, dass Kinder bei der Ernte mitarbeiten, sondern gegen gesunkene Kilopreise am Fabriktor. Auch Horfilio Villanueva wirkt gleichgültig. „Wir lernen hier alle früh, mit der Machete umzugehen“, sagt er.

„Die Arbeit ist Teil unserer Kultur.“ Eine Erzählung, die nicht nur dem Gesetz widerspricht, sondern auch der westeuropäischen Vorstellung von dem, wie eine gute Kinder- und Jugendzeit auszusehen hat. Doch je länger man sich in Riberalta aufhält, desto unschlüssiger wird man: Was ist Kinderarbeit? Wie würden die bolivianischen Jungen über ihren Alltag denken, würden sie ihn anders kennen? Und wie viel ist tatsächlich Kultur, wie viel eigentlich Armut Alternativlosigkeit, Abhängigkeit?

Eine Ambivalenz, die Vincent Vos gut kennt. Vos ist freiberuflicher Biologie und Mitautor diverser Studien zum Paranussbaum und den Arbeitsbedingungen bei der Ernte. Die Broschüre zur Arbeitssicherheit, die die bolivianische NGO mithilfe des Großhändlers Voicevale veröffentlicht hat, hat er maßgeblich verfasst. Ursprünglich kommt Vos aus den Niederlanden, seit 20 Jahren lebt er in Riberalta, er versteht beide Lebensrealitäten.

„Wenn die Mutter den ganzen Tag in der Verarbeitungsfabrik sitzt und sich die Finger wund arbeitet, dann will der Sohn eben auch etwas beitragen“, sagt Vos. Wer mithelfen könne, schaffe Geld heran, unterstütze seine Angehörigen, die Dorfgemeinschaft. „Das ist eine Form der Familienhilfe.“

An diesem Tag verteilt er die Broschüre an Alfredo Guari und seinen zwölfjährigen Sohn Gumersindo. Auch sie waren unweit von Riberalta den ganzen Tag im Wald und haben Paranusskerne gesammelt. Auch hier das gleiche Bild: Die beiden wirken eingespielt, routiniert und Gumersindo stolz auf sein Geschick. „Bisher ist niemandem etwas passiert“, sagt er. Doch was wirklich in ihm vorgeht, bleibt unklar – auch hier übernimmt der Vater das Reden.

„Manchen Jungen macht die Arbeit im Wald ja auch Spaß, sie mögen das“, meint Vincent Vos aus Gumersindos Verhalten ablesen zu können. In seinen Augen werde der Stempel „Kinder­arbeit“ zu schnell von denen vergeben, die die Situation vor Ort nicht kennen. „Die Gesetze werden in La Paz gemacht“, sagt Vos trotzig. Aber man müsse die Lebensrealität der Menschen anerkennen.

Eine Forderung, die in Bolivien häufig gestellt wird. Selbst vom ehemaligen Präsidenten Evo Morales. „In ländlichen Gebieten unterstützen Kinder ihre Familie, sobald sie Laufen gelernt haben. Das ist keine Ausbeutung, das ist ein Opfer, aber gleichzeitig auch Lebenserfahrung“, sagte Morales 2013 in La Paz.

Nach eigenen Angaben habe er als Kind gearbeitet und zwei seiner Kinder zum Hüten von Lamas geschickt. Immer wieder wird in Bolivien deshalb diskutiert, ab welchem Lebensjahr es erlaubt sein sollte, eigenes Geld zu verdienen – als Schuhputzer beispielsweise oder als Marktverkäuferin.

Doch bis zu welchem Grad lässt sich Kinderarbeit mit der Lebensrealität eines Landes rechtfertigen? Und wer entscheidet, was gut für die Menschen ist und was schlecht – wenn es an wirtschaftlichen Alternativen mangelt? Auch das im Juni beschlossene Lieferkettengesetz wird dieses Spannungsfeld betreffen. Ab 2023 verpflichtet es Unternehmen mit mindestens 3.000 Mitarbeitenden zur Einhaltung von ökologischen und sozialen Mindeststandards in ihrer gesamten Lieferkette. Ab 2024 gilt das Gesetz darüber hinaus für Unternehmen mit 1.000 Mitarbeitenden aufwärts.

Die lebensgefährliche Ernte der Paranusskerne ist und bleibt ein Sonderfall. Schließlich ist sie selbst in Bolivien erst ab der Volljährigkeit erlaubt. Die Herkunft der Kerne hätte also schon längst genauer überprüft werden müssen. Gleichzeitig braucht es unter dem dichten Blätterdach des Regenwalds aber auch Menschen wie Horfilio und Ismael oder Alfredo und Gumersindo, die das Verbot von Kinderarbeit mittragen. Doch wie realistisch ist das in einem der ärmsten Länder Südamerikas, in dem die Ernte der Paranusskerne etwa drei Viertel der Wirtschaftsleistung im Nordosten ausmacht?

Für Silvia Escóbar von CEDLA fällt die Bewertung eindeutig aus. Die Familien kaschierten das als Familienhilfe oder Familienarbeit, sagt sie. „Aber da besteht für mich kein Zweifel: Das ist Kinderarbeit.“ Es sei ein Unterschied, ob sich das Kind seine Beschäftigung selbst suche oder Aufgaben zugeteilt bekomme und den finanziellen Druck der Eltern spüre, fährt sie fort.

Die Familien seien so sehr in der finanziellen Abhängigkeit gefangen, dass sie diese Arbeitsbedingungen als gegeben hinnehmen. Und die Unternehmen würden dies ausnutzen, sagt sie, indem sie die Augen verschließen, vor dem, was vor den Fabriktoren geschehe – ebenso die Regierung: „Wir haben seit 20 Jahren keinen Staat, der willens oder in der Lage wäre, die Gesetze in der Region durchzusetzen.“

Vincent Vos sieht die Lösung in einem Kompromiss: Anstatt auf ein striktes Verbot zu beharren, das im dichten Gestrüpp des Regenwalds ohnehin niemand kontrollieren könne, sollten die Arbeitsumstände verbessert werden. Schutzkleidung, höhere Löhne, mehr Kindergärten und Betreuungsangebote könnten ein Anfang sein, findet er. Denn würden die Zafreros besser bezahlt, würde der Druck auf die Jungen sinken, mit in den Wald zu kommen. Die Unternehmen müssten an einem nachhaltigen Konzept für die Region mitwirken, an einer Lieferkette auf Augenhöhe.

Am Mittag werden die Machetenhiebe von Horfilio Villanueva und seinem Neffen Ismael langsamer. Nach fast zwei Stunden hören sie auf. Beide Säcke sind nun bis zum Rand gefüllt. Horfilio schultert einen davon, 70 Kilo wiegt er etwa. Beim Zwischenhändler an der Flussbiegung wird er dafür 480 Bolivianos in die Hand gedrückt bekommen, 60 Euro. Geld für Lebensmittel, für seine Frau und Tochter in Cobija und seinen Neffen Ismael.

„So ist das eben bei uns“, sagt Horfilio, den Blick auf die übrig gebliebenen Paranüsse am Waldboden gerichtet. Wie Taler liegen sie da, man muss sie nur aufheben. Ismael scheint in diesem Moment nicht zuzuhören. Verträumt fixiert er einen Punkt im Wald. Er hat einen Schwarm bunter Schmetterlinge entdeckt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!