: Celle schiebt behindertes Kind ab
Die sechsjährige Romni wurde nachts mit ihrer Mutter nach Serbien gebracht – trotz Härtefallantrag
Von Nadine Conti
Anastasia E. wurde 2015 in Celle geboren. Das kleine Mädchen leidet unter einer schweren Hörminderung, einer damit verbundenen Spracherwerbsstörung, einer Mikrozephalie und einer Hüftdysplasie. Einen Behinderungsgrad von 90 Prozent hat das Landessozialamt festgestellt, praktisch von Anfang an kümmerten sich Jugendamt und eine Caritas-Familienhilfe um sie, weil die alleinerziehende Mutter selbst in psychiatrischer Behandlung ist. Das Kind entstammt einer Vergewaltigung, sagt eine ehrenamtliche Unterstützerin.
Das Mädchen ging in einen Förderkindergarten, die Überführung in eine heilpädagogische Einrichtung oder eine Sprachheilschule war geplant, die Behandlung der Mutter in die Wege geleitet. Sie hatte auch einen Deutschkurs angefangen.
Doch Ende Juni stehen nachts um 1.30 Uhr Abschiebebeamt*innen in der Wohnung. Obwohl ihr Widerspruch im Asylverfahren noch nicht abgelehnt ist und ein Antrag bei der niedersächsischen Härtefall-Kommission gestellt wurde. „Das ist formalrechtlich nicht zu beanstanden, aber die Stadt hätte auch anders handeln können“, sagt Sebastian Rose vom Flüchtlingsrat Niedersachsen.
Der Flüchtlingsrat hat den Fall zusammen mit dem lokalen Arbeitskreis Asyl und Migration und dem Roma Center e. V. öffentlich gemacht. Er ist ein – besonders dramatisches – Beispiel für die Problematik, die das Roma Center schon seit Jahren anprangert und jüngst für den Bericht der Antiziganismus-Kommission auf Bundesebene umfassend dokumentiert hat: Die systematische Abschiebung von Rom:nja und Sinti:ze in die Balkanstaaten, obwohl sie dort ausgegrenzt werden und anhaltenden Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind.
Auch in diesem Fall, fürchtet Helga Habekost vom AK Asyl und Migration, die von Celle aus Kontakt zu der Familie hält, ist die Versorgung schwer sicherzustellen: „Die Mutter hat mir erzählt, dass sie das Kind nicht einmal anmelden konnte, weil die Behörden die in Deutschland ausgestellte Internationale Geburtsurkunde nicht anerkennen wollten.“
Außerdem nächtigen die beiden nun schon seit über einer Woche auf den Sofas wechselnder Verwandter und Bekannter, weil es für die mittellose Frau schwer ist, eine eigene Unterkunft aufzutreiben. Habekost vermutet, dass die Kleinfamilie in Celle vor allem als Kostenfaktor betrachtet wurde. „Die Versorgung dieses Kindes war wohl zu teuer, deshalb wollte man sie loswerden.“
Flüchtlingsrat und Roma Center berichten von einem ähnlichen Fall aus Göttingen. Hier war, ebenfalls am 30. Juni, nachts ein älteres Roma-Ehepaar vor den Augen der Kinder und Enkelkinder in Handschellen und Fußfesseln abgeführt worden. Die beiden stammten ursprünglich aus dem Kosovo, sind aber nach Serbien abgeschoben worden. Geduldet worden waren sie nur so lange, wie sie sich um ihre geistig behinderte Tochter zu kümmern hatten.
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