Über die Bedeutung von Schönheit: Der schönste Philosoph der Welt
Was bleibt im Alter? Ist es sinnvoll, auf Schönheit zu setzen? Der Ethikrat triumphiert einmal mehr bei seiner Antwort.
D er Ethikrat war zu einer Forschungsreise auf den Spuren von Pico della Mirandolas Metaphysik aufgebrochen, und ich hatte den Sommer ohne philosophischen Beistand verbracht. Der Ethikrat, das sind drei ältere Herren von geringer Größe, die mir gelegentlich Handreichungen in Sachen praktischer Ethik geben.
Ich selbst war wieder einmal in ein kleines toskanisches Dorf gereist, das die jungen Leute verlassen haben, und nur die alten Damen und Katzen aller Farben sind geblieben. „Was bleibt im Alter?“, hatte ich mich gefragt, aber die beiden alten Damen, an die ich mich damit hätte wenden können, waren inzwischen gestorben und ohnehin schien mir die Frage für nahezu jedes Gegenüber zu privat. Um so mehr vermisste ich den Rat.
Auf dem Rückweg nach Deutschland machten wir einen Abstecher nach Venedig, denn man hatte es uns als für venezianische Verhältnisse leer ans Herz gelegt. Als wir auf der Suche nach einer Vaporetto-Haltestelle durch die Gassen irrten, glaubte ich plötzlich den Ethikrat zu sehen. Er lagerte in einer Gondel und trug Strohhüte, die mit Bändern in den italienischen Farben geschmückt waren. „Hallo, buona sera“, rief ich, aber der Rat schien mich nicht zu hören und die Gondel verschwand in einem Seitenkanal.
Am Abend suchten wir vergeblich nach einer günstigen Trattoria, und da unsere Reisekasse erschöpft war, setzten wir uns auf eine Bank und aßen bröckelige Pizza. Die Kinder gerieten in Entzücken über junge Frauen in hellen Sommerkleidern und ich kam nicht umhin, die Schönheit der Männer zu bemerken, die mit entblößtem Oberkörper ihre Lastkähne steuerten. Da hörte ich ein Scheppern und sah, wie der Ethikratsvorsitzende die Figur einer Frau mit Helm, die vermutlich Pallas Athene darstellen sollte, vom Boden aufhob und auf eine Apfelsinenkiste stellte. Danach verschwand er hinter einem Paravant, an dem ein Schild hing: „Incontri un filosofo – 10 minuti per 5 Euro“.
Philosophisch Interessierte unter den Touristen
Ich ging hinüber und traf den Ratsvorsitzenden auf einem Klappstuhl an. „Haben Sie Ihre Arbeit im Urlaub wieder aufgenommen?“, fragte ich. „Wir hatten uns mit den Preisen der hiesigen Angebote nicht ausreichend vertraut gemacht“, sagte der Vorsitzende knapp. „Aber wir hoffen auf philosophisch Interessierte unter den Touristen.“– „Wo sind eigentlich Ihre Kollegen?“, fragte ich, denn mir fiel erst jetzt ihr Fehlen auf.
„Sie gehen neue Wege“, sagte der Vorsitzende, „aber nun zu Ihnen: Was ist Ihre Frage?“ – „Sie ist ein weites Feld“, sagte ich zögerlich. „Aber doch: Ist es nicht sinnvoller, auf den Geist als auf den Körper zu setzen? Ich meine: Dies ist eine Kultur, die die Schönheit des Körpers feiert und das ist faszinierend. Aber ist es nicht auch kurzsichtig? Wenn der Körper verfällt, bleiben einem noch viele Jahre. Wenn man dann Horn spielen kann oder Blitzschach oder die mächtigste Frau der Welt ist, lässt sich besser damit umgehen.“
Gegen seine Gewohnheit hatte mir der Vorsitzende bis zum Ende zugehört. „Signora Gräff“, sagte er, „ich möchte Ihnen zwei Ideen anvertrauen. Zum einen: Der Strang in der Philosophie, der einen Dualismus zwischen Körper und Geist sieht, ist nur einer unter vielen. Zum anderen möchte ich Sie fragen, ob Ihre Idee von Schönheit nicht sehr normativ ist.“
Natürlich war das keine Frage. Der Ethikrat hatte wie immer recht: Es war dumm, Schönheit mit Jugend gleichzusetzen. „Aber tut das nicht die Mehrheit?“, rief ich. „Umso verbissener, je mehr Alte es gibt?“ Da klang eine Glocke. „Danke für Ihren Besuch“, sagte der Ratsvorsitzende. „Leider ist Ihre Zeit abgelaufen.“
Der philosophische Weg kann mühsam sein
Ich verabschiedete mich und sagte mir, dass der philosophische Weg mühsam sein könne, ja müsse, als ich Applaus hörte. Als ich um eine Ecke bog, sah ich auf einer Tribüne sechs junge Männer in Badehosen, deren muskulöse Oberkörper ölig glänzten.
Alle trugen Bärte, unter ihren Armen klemmten ledergebundene Nachschlagewerke und sie wirkten milde enttäuscht. Aber in ihrer Mitte, auf einem Podest, standen die beiden Ratsmitglieder, die immer schwiegen. Sie trugen ein Bettlaken oder eine Tunika und reckten eine Trophäe in die Höhe. „Il più bel filosofo del mondo“ stand darauf. Ich blätterte eilig in meinem Wörterbuch: „Der schönste Philosoph der Welt“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier des FInanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
VW in der Krise
Schlicht nicht wettbewerbsfähig
Kritik an Antisemitismus-Resolution
So kann man Antisemitismus nicht bekämpfen
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
Mögliche Neuwahlen in Deutschland
Nur Trump kann noch helfen
Kränkelnde Wirtschaft
Gegen die Stagnation gibt es schlechte und gute Therapien