: Der Sprachartist
Helmut Heißenbüttel wollte nie Geschichten erzählen und prägte doch das westdeutsche Kulturleben: als Autor, Radioredakteur, Rezensent. In dieser Woche hätte er seinen 100. Geburtstag gefeiert
Von Frauke Hamann
Am Montag wäre er 100 Jahre alt geworden: Mit einer Ausstellung und einigen Veranstaltungen erinnert deshalb die Freie Akademie der Künste in Hamburg an ihr einstiges Mitglied Helmut Heißenbüttel – Schriftsteller, Kritiker und Essayist, Redakteur, Radiomacher, Mitglied der Gruppe 47, Träger des Bundesverdienstkreuzes … „Kein Beruf“, heißt es paradoxerweise in seinem nüchtern gefassten Lebenslauf „Stenogramm“ von 1959: „Verheiratet. Amputation des linken Armes (1941 Rußland) und Lebensunterhalt durch Kriegsversehrtenrente. Studium (versucht): Architektur. Studium (durchgeführt): Deutsch und Kunstgeschichte. Erinnerungen an verschiedene Städte: Wilhelmshaven (1921–1932), Papenburg (ab 1933), Krefeld (als Soldat), Dresden und Leipzig (bis 1945), Hamburg (nach 1945). Schreibend seit dem 15. Lebensjahr, unregelmässig“.
Als Heißenbüttel, dieser Langzeitstudierende, Mitte der 1950er-Jahre in Hamburg Bücher von Gertrude Stein entdeckte, haute es ihn um. Sie lehrte ihn, Sprache assoziativ-spielerisch-repetitiv einzusetzen und eröffnete ihm damit neue Ausdrucksmöglichkeiten. Heißenbüttel opponierte fortan „gegen die Kategorie des Inhaltlichen“, was dann einige Jahre später im Bekenntnis mündete: „Ich habe eigentlich nichts zu sagen.“ Heißenbüttel pochte auf die Autonomie von Wörtern und Sätzen, kommentierte die Textbeschaffenheit, beschrieb grammatische Indifferenz, Kombinationen, Variations- und Formelketten, rhythmische Komplexe. Aber er wusste auch, dass bestimmte Wörter und Formulierungen unweigerlich Erinnerungen hervorrufen, Zusammenhänge schaffen: „Also doch ein Inhalt, doch eine Geschichte?“
Der Mann nun, der partout keine Geschichten erzählen wollte, legte dann insgesamt elf sogenannter Textbücher vor, durchnummeriert wie Serienprodukte. Er schrieb sogenannte „Projekte“ wie „D’ Alemberts Ende“: eine große Collage aus Material eines einzigen Tages in Hamburg im Juli 1968.
„Sprache ist sein Material. Sie ist seine ausschließliche berufliche Heimat, als Schriftsteller wie als Rundfunkredakteur, er ist aber auch darin eingesperrt“: In der Hamburger Freien Akademie der Künste erzählte jetzt der Literaturkritiker Willi Winkler, wie stimulierend die Beschäftigung mit Heißenbüttel sei. „Er hat über das Nicht-Sagen-Können geschrieben, über das Paradox, in der Welt zu sein, wobei doch alles über die Welt bereits gesagt ist. Ihm sind die offenen Räume der Sprache bewusst, aber auch deren Begrenzungen.“ Als Heißenbüttel 1969 den Büchner-Preis entgegennahm, eröffnete er seine Dankesworte mit einer Reverenz an Gertrude Stein: „Eine Rede ist eine Rede. Eine Rede ist eine Rede heißt eine Rede ist eine geredete Rede das heißt sie muß geredet das heißt gehalten werden.“
Sein Gedicht „negative Dialektik“ von 1970 versammelt Artikulationsarten des Wortes „nein“. 46 Zeilen dieser „neins“ münden schließlich in ein „naja“. So entschieden-unentschieden spricht der Mensch, so eindeutig-uneindeutig handelt der Mensch, so opportunistisch kann er sein, der Mensch.
„Als Leser, als Buchrezensent und als Schriftsteller“ hatte Heißenbüttel sich 1963 definiert, in seiner Frankfurter Poetikvorlesung. „Seine zweite Identität“, sagt Winkler, „war das hemmungslose Schreiben über andere, das Rezensieren von Büchern.“ Als Abteilungsleiter beim Süddeutschen Rundfunk war Heißenbüttel wirtschaftlich abgesichert. Seine Rezensionen erschienen in der Frankfurter Rundschau, in der Süddeutschen Zeitung, in Christ und Welt und im Spiegel. Es ging ihm um Neuerscheinungen jenseits des Mainstreams: „Es ist Literatur“, lautete seine Maxime, „wenn es literarisch wichtiger ist, durch eine leichte Verstellung, eine kleine Verschiebung, Nebensinne, Hintersinne, Unverhofftes zum Vorschein zu bringen als weiterhin darauf herumzutrampeln, was wer wem tut, was wem passiert, was wer an Überzeugung und Glauben hochzuhalten habe.“
„Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt“, so lautet Heißenbüttels Poetologie in einem Satz. Die Sprache wird zur einzigen Gewissheit, der Autor zum Arrangeur vorgefundenen Materials. Als Radio-Mann setzte er auf „die Sensation des Zuhörens“. Mit der Frage: „Woraus setzt sich das Bild eines Menschen zusammen? Aus Eindrücken oder aus Sätzen?“, kündigte der Bayerische Rundfunk 1970 Heißenbüttels erstes eigenes Hörspiel an, Titel: „Zwei oder drei Porträts“. Es handelt vom heiklen Versuch, einen Menschen zu charakterisieren.
Willi Winkler, Literaturkritiker
Der Hörspielredaktion hatte der frisch gebackene Büchner-Preisträger nur eine Ansammlung von Sätzen geliefert, zu verteilen auf beliebig viele Sprechende: keine Rollen, keine Handlung, sondern Gerede, unbestimmte Aussagen, stereotype Beschreibungen, Widersprüche, Wiederholungen. „Er hatte sozusagen schweigend das Ganze missbilligt“, heißt es darin etwa. „Er war Mitarbeiter der Zeitschrift Das Reich gewesen.“ Und gleich drauf: „Er hat nie einer Organisation des ‚Dritten Reiches‘ angehört.“ – „Sehr selten sind die Augenblicke, in denen ihm alles unwiderruflich richtig erscheint.“ Es war ein Ausprobieren: Wie lässt sich ein Leben erzählen? Wie sprechen wir es uns selbst vor? Wie vergewissern wir uns durch Sprache selbst, wer wir sind, sein könnten, gewesen sein könnten?
Der gebürtige Wilhelmshavener studierte in Dresden, Leipzig und Hamburg. In den 1950er-Jahren ging er nach Stuttgart, um in Alfred Andersch’ Redaktion „Radio-Essay“ mitzuarbeiten. 1959 übernahm er die Redaktionsleitung und blieb mit seiner Frau Ida und vier Kindern erst mal im Süden. Mit 60 Jahren, 1981, ließ er sich pensionieren, die Familie zog wieder ins geliebte Norddeutschland, in ein verwinkeltes Haus in Borsfleth an der Stör. Schallplattensammlung und immense Bibliothek waren dort versammelt, unterschiedliche Nationalliteraturen hatten jeweils eigene Zimmer, eines ist allein Krimis vorbehalten. Aus Geburtstags-Anlass sendet der NDR am heutigen Dienstagabend ein älteres Feature über Heißenbüttels Haus.
Für Willi Winkler zählt Heißenbüttel zur literarischen Avantgarde nach dem Zweiten Weltkrieg, so wie Franz Mon und Eugen Gomringer. Seine Wirksamkeit reiche weit über das eigene poetische und essayistische Werk hinaus, denn über den Rundfunk habe er Autoren wie Arno Schmidt bekannt gemacht. Oder gleich ganz entdeckt, so wie Jean Améry, dessen große Bücher „Jenseits von Schuld und Sühne“, „Über das Altern“ und „Hand an sich legen“ anfangs als Funkserien konzipiert waren. Winkler erinnert auch daran, dass der Rundfunk – durch lukrative Aufträge – einst großer Mäzen war. In der Blütezeit, im Kulturradio der 1950er- und 1960er-Jahre, hatte Heißenbüttel starken Einfluss – als Ideengeber und Netzwerker, als Experimentator, als Förderer und als Lenker von Aufmerksamkeit. Eine seiner Collagen ist seit einigen Jahren zentraler Bestandteil des Deserteursdenkmals nahe dem Hamburger Dammtorbahnhof: „Deutschland 1944“ setzte er 1967 zusammen aus Hitler-Reden und NS-konformer Dichtung.
Wir sind Sprechwesen und bieten Sprachmaterial zugleich. Wer Heißenbüttel liest, hört unser aller alltägliche Verfertigung von Lebens-Erklärung beim Reden. Sein Mut zur Veränderung von Sprache war seine Weise, auch die Welt zu verändern. Dass in Hamburg nun der Zeichner, Collagierer, Über-Maler Heißenbüttel gezeigt wird: Es tut all dem keinen Abbruch.
Ausstellung Helmut Heißenbüttel – Die Bilder: bis 4. 7., Hamburg, Freie Akademie der Künste
Radio-Feature „Helmut Heißenbüttel-Homestory“ (2013): Di, 22. 6., 20 Uhr, NDR Kultur; bis 16. 6. 2022 auch auf ndr.de verfügbar
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