: Sonnen für den Sozialismus
Utopien und wie sie erodierten: Eine Ausstellung im Kunstverein Ost stellt architekturbezogene Kunst der DDR vor. Per App setzt sich diese rund um die Leipziger Straße im Stadtraum fort
Von Robert Mießner
Sicher sieben Sonnen sind es, die seit neulich im Erdgeschoss eines 80-Meter-Wohnhochhauses in Berlin-Mitte aufgehen. Sieben Sonnen, sie leuchten blau, gelb, rot und orange, und sie sind keine sommerliche Halluzination, sondern bilden ein Exponat der Ausstellung „Da seid ihr ja!“ im Kunstverein Ost (KVOST) in der Leipziger Straße, knapp vor der ehemaligen Berliner Mauer.
Stephan Koal, einer der Kuratoren und Leiter des Kunstraumes, erläutert die Geschichte des Kunstwerks: Es handelt sich um die Entwurfszeichnung eines immerhin 1,35 Meter hohen, 9 Meter breiten Wandreliefs der Architekturkünstlerin Gertraude Pohl und ihrer Mitarbeiterin Gunda Walk, das zur 37. Etage des Hotels Stadt Berlin, einem Interhotel der DDR, heute Park Inn, am Alexanderplatz gehörte.
Der querformatige, gerahmte Aufriss des Werkes ist in der bis in den August laufenden Ausstellung für jedermann zugänglich, mit dem Relief selbst ist es komplizierter. Wer es sehen möchte, muss zahlender Gast der „Sky Lounge“ des Park Inn sein und wird beim Frühstück auch nur vier von insgesamt neun Tafeln des Wandbilds zu sehen bekommen. Die anderen fünf lagerten nach 1989 im Keller und sind mittlerweile verschwunden. Auch Gertraude Pohl weiß nicht, wohin.
Eingeweiht wurde das Relief 1973, in dem Jahr, als die Hauptstadt der DDR Gastgeberin der X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten war, einer Art neuntägigem „sozialistischem Woodstock“ in Ostberlin. Die DDR hatte einen utopischen Gehalt; Pohls und Walks Relief bezeugt ihn, wie andere Exponate der KVOST-Ausstellung auch. Auf der gegenüberliegenden Wand ist ein großformatiges Gemälde Günther Brendels zu sehen: „Bauarbeiter des Alexanderplatzes“, und es zeigt sie nicht einfach, es feiert sie. Interessant ist, wie die Ausstellung eine Achse zieht, indem sie sich multimedial erweitert. Zu „Da seid ihr ja!“ gehört eine in Zusammenarbeit mit dem Anbieter History App Berlin konzipierte Applikation, die einen virtuellen, oder besser noch reellen, Spaziergang vom Alexanderplatz zu den Ausstellungsräumen und darüber hinaus ermöglicht und Plastiken und Kunst am Bau der DDR präsentiert.
Beginnen ließe sich beispielsweise mit dem berühmten Wandmosaik Walter Womackas am Haus des Lehrers; Mitte der Sechzigerjahre ist bei ihm der Sozialismus eine himmelstürmende Macht, ist Wissenschaft und Vergnügen. Wer weiter in Richtung Leipziger Straße läuft, wird zur linken Seite, dem Amtsgericht Mitte in der nach Hans Litten, antifaschistischer Anwalt und Strafverteidiger der späten Weimarer Republik und Naziopfer, benannten Littenstraße gegenüber, die Ruine der Ende des Zweiten Weltkriegs zerstörten Franziskaner-Klosterkirche entdecken. Vor ihr erhebt sich eine Christusfigur, „Auferstehender“ heißt sie. In der App zitiert der Kunsthistoriker Edouard Compere den Bildhauer Fritz Cremer, dem es nicht um „Erlösung durch das Kreuz, sondern um Erlösung vom Kreuz“ ging. Cremers Christus ist ein Empörer. Er steht dort seit 1985, drei Jahre nachdem die Bauarbeiten an dem Hochhauskomplex Leipziger Straße beendet worden waren.
Das weitläufige Wohnviertel zwischen dem U-Bahnhof Spittelmarkt und der Charlottenstraße beherbergte eine Institution wie das 1981 eröffnete Kinderkaufhaus und zwei von insgesamt sieben Ostberliner Nationalitätenrestaurants der sozialistischen Bruderländer, das „Praha“ und das „Sofia“. Letzteres befand sich genau neben den jetzigen Räumen von KVOST. Hinzu kamen ein Modehaus und ein Feinkostkaufhaus. Nur war das nicht alles. Zum Revier gehörten auch zwei Oberschulen, an denen sich in den fortlaufenden Achtzigerjahren erleben ließ, wie die Utopie erodierte. Rost soll ja seine eigene Schönheit haben, aber ich mag sie selbst im Nachhinein nicht entdecken. Als die Schulgebäude vor einigen Jahren einer Wohnanlage wichen, hielt sich als Ehemaliger meine Trauer in Grenzen.
Die Wut über einen anderen Abriss ist hingegen bis heute nicht verraucht: Im Sommer 2000 wurde die denkmalgeschützte Großgaststätte Ahornblatt an der Gertraudenstraße, Ecke Fischerinsel planiert. Das Gebäude war ein kühner Entwurf, ein 1973 abgeschlossenes Schalenbauwerk, konzipiert von dem Bauingenieur Ulrich Müther und den Architekten Gerhard Lehmann und Rüdiger Plaethe. Den Namen gab ihm Müther aufgrund der Dachform. Das Ahornblatt war mehr als einfach ein Selbstbedienungsrestaurant, in ihm fanden auch Jazzkonzerte und Modenschauen statt. An seiner Stelle befindet sich heute ein, das Wort sollte langsam gelesen werden, Mittelklassehotel. Eine Postkarte vom Ahornblatt mit seiner markanten Fassade, die gut an die Adria oder nach Sydney gepasst hätte, gehört zu den 207 Ansichtskarten mit Ostberliner Motiven, welche eine der weiteren Wände von „Da seid ihr ja!“ bilden. Und inmitten von ihnen hängt eine, bei der man sich fragt, wie sie es zu DDR-Zeiten in den Handel geschafft hat, eine Schwarz-Weiß-Aufnahme von Erich Johns Weltzeituhr auf dem Alexanderplatz. Ihre Zeiger stehen auf kurz vor halb Neun, es muss ein Abend in der kalten Jahreszeit sein. Der Platz ist menschenleer, die Bäume kahl, das Haus des Lehrers und die Kongresshalle sind wie hinter einer Milchglasscheibe auszumachen. Von dem berühmten Stahlmodell des Sonnensystems, das sich auf der Uhr dreht, ist einzig das Zentralgestirn zu sehen. Die Planeten sind in Dunkel gehüllt. Das merke ich mir als Buchcover.
„Da seid ihr ja!“, bis 21. August, KVOST – Kunstverein Ost e. V.
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