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Verkehrswende in DeutschlandReduce, shift, improve

Gastkommentar von Markus Wissen

Der Verkehrssektor braucht einen Systemwechsel. Die Vergesellschaftung der Sozial-und Umweltschäden produzierenden Autoindustrie wäre ein Anfang.

Grün, aber trotzdem von gestern: Rennauto auf dem Nürburgring Foto: dpa

I m Jahr 2010 veröffentlichte die Internationale Transportarbeiter*innen-Förderation (ITF) ein bemerkenswertes Dokument zu nachhaltiger Mobilität. Dessen Kernbotschaft lautete reduce, shift, improve: unnötige Personen- und Gütertransporte vermeiden, Verkehr auf umweltfreundliche Transportmittel verlagern, alle Möglichkeiten zur Reduzierung von CO2-Emissionen ausschöpfen.

Bemerkenswert war das Dokument zum einen wegen dieser Botschaft. In einer Zeit, in der der deutsche Staat den Wachstumsmotor anzuwerfen versuchte, indem er die Verschrottung von Alt- und den Kauf von Neuwagen mit einer so genannten Umweltprämie unterstützte, setzte die ITF auf Reduktion des Verkehrsaufkommens.

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Zum anderen war es der Urheber, der das Dokument so bemerkenswert machte. Die ITF vereinigt nationale Gewerkschaften des Transport- und Verkehrssektors, darunter ver.di und die EVG aus Deutschland. Es handelt sich also um eine Lohnabhängigen-Vertretung, von der man annehmen könnte, dass sie einen wachsenden Transportsektor befürwortet. Stattdessen wartete die ITF mit einer kritischen Analyse des globalisierten Kapitalismus und der sozial-ökologischen Probleme des Güter- und Personentransports auf.

Kapitalistische Unternehmen, so das Argument, stehen unter dem Druck, ihre Kosten zu minimieren. Dieser Druck ist umso höher, je kompetitiver das Umfeld ist, in dem sie sich bewegen. Die Globalisierung steigert den Druck. Gleichzeitig verschafft sie den Unternehmen ein Ventil in Gestalt von Produktionsverlagerungen. Wird dieses genutzt, dann erhöht sich das Transportaufkommen und die Verkehrsemissionen steigen. Zudem nimmt zwar die Zahl der Transportbeschäftigten zu, deren Arbeitsbedingungen aber verschlechtern sich: Die Schiffsbesatzungen, die Lkw-Fahrer*innen oder die Ha­fen­ar­bei­te­r*in­nen profitieren am wenigsten von den angeblichen Segnungen des globalen Kapitalismus. Im Gegenteil, der Konkurrenzkampf wird auf ihrem Rücken ausgetragen.

Die ökologische und die soziale Frage hängen folglich eng miteinander zusammen. Beide haben ihre Ursache in einer Produktionsweise, die sich nicht an der Befriedigung von Bedürfnissen, sondern an der Maximierung von Gewinnen orientiert und systematisch sozial-ökologische Kosten produziert. Daran ändert auch eine ökologische Modernisierung des Transportsektors nichts: Mehr Elektroautos (improve) und auch die so wichtige Verlagerung von Transporten von der Straße auf die Schiene (shift) reichen solange nicht aus, wie sie nicht in eine übergreifende Strategie der Verkehrsreduktion (reduce) eingebettet sind. Ohne letztere würden die ökologischen Wirkungen ersterer durch ein höheres Verkehrsaufkommen überkompensiert, und gute Arbeitsbedingungen fielen Konkurrenzzwängen zum Opfer.

Mit dem der kapitalistischen Ökonomie innewohnenden Wachstumsimperativ ist eine verkehrspolitische reduce-Strategie gleichwohl kaum vereinbar. Notwendig ist vielmehr ein Systemwechsel. Allerdings scheitert dieser bislang sowohl an den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen als auch an den Alltagspraktiken, die ein nicht-nachhaltiges Mobilitätsmuster normalisieren.

Markus Wissen ist Politikwissenschaftler an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin. Zu­sam­men mit Ulrich Brand erschien von ihm: „Impe­ri­ale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus“ (Oekom).

Neben dem Flug- und Schiffsverkehr stellt vor allem die Automobilität eine große Herausforderung dar. Obwohl alles dafür spricht, dass sie als vorherrschende Form der Fortbewegung keine Zukunft mehr hat, wird genau daran gearbeitet: sie mittels Elektrifizierung vor dem sicheren Ende zu bewahren.

Aber die Risse im automobilen Konsens werden tiefer. Vielerorts formieren sich Initiativen, die für autofreie Innenstädte streiten, sich für die Rechte von Rad­fah­re­r*in­nen und Fuß­gän­ge­r*in­nen einsetzen und für eine bessere Infrastrukturausstattung ländlicher Räume kämpfen. Beschäftigte der Autoindustrie fragen sich, ob sie ihre Kompetenzen nicht besser für gesellschaftlich sinnvolle Produkte und Dienstleistungen verwenden sollten.

Sie alle würden davon profitieren, wenn sich Akteure wie die Gewerkschaften auf ihre Seite schlügen. Die ITF hat dafür schon vor elf Jahren wichtige Argumente und Orientierungen geliefert. In Deutschland hat ver.di im vergangenen Herbst zusammen mit Fridays for Future für bessere Arbeitsbedingungen und einen Ausbau des ÖPNV gekämpft. Die IG Metall könnte folgen: vor allem, indem sie ihr gesellschaftspolitisches Engagement zugunsten einer sozial-ökologischen Mobilitätswende intensiviert.

Dazu bedarf es der Bereitschaft, sich mit mächtigen Interessengruppen anzulegen. Nicht zuletzt wäre die Eigentumsfrage zu stellen: Wer die Autokonzerne davon abhalten will, weiterhin Profite auf Kosten von Mensch und Natur zu machen, der muss sie unter demokratische Kontrolle bringen.

So könnte der Rückbau der Autoindustrie jetzt eingeleitet werden und planvoll vonstatten gehen, statt sich in Zukunft als sozial kaum mehr aufzufangender Bruch zu vollziehen. Mit Arbeitszeitverkürzungen, dem Hochfahren der Produktion für ein nachhaltiges Verkehrssystem und dem Ausbau entsprechender Infrastrukturen würden die beschäftigungspolitischen Folgen der automobilen Abrüstung mehr als abgefedert.

In ihrer Satzung bekennt sich die IG Metall zur Vergesellschaftung von Schlüsselindustrien. Auch das Grundgesetz sieht diese Möglichkeit vor: Es gibt, so heißt es bei Wolfgang Abendroth, keine verfassungsrechtliche Garantie der kapitalistischen Wirtschaftsweise. Nachdem diese die Menschheit an den Rand des Abgrunds geführt hat, wird sich auch an der Gestaltung des Mobilitätssystems erweisen, ob die Kehrtwende gelingt. Die Autoindustrie ist dabei nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. Was liegt also näher, als mit dem Systemwechsel bei ihr zu beginnen, sie zu vergesellschaften und eine Mobilitätswende zu forcieren, die ihren Namen verdient?

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3 Kommentare

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  • Wunderbar. Die 'alte' TAZ ist zurück. Ein wenig Wahrheit muss sein, also ich kann vielleicht auf das tägliche Duschen verzichten und Oma kannte auch keinen Kühlschrank und Tiefkühl-Fertigprodukte.

    Aber ich habe hier ein paar Teenager ...

  • Habe ich zwar kürzlich schon mal geschrieben, aber weil's hier so schön passt:



    Die Autoindustrie entwickelt sich seit Jahrzehnten in eine perverse Richtung. Ich brauche ein Auto, mit dem ich einigermaßen wetterunabhängig meine Arbeitsstelle erreichen kann (ca. 20 km einfach, ÖPNV: 3 mal umsteigen). Damit ich einkaufen kann (nächster Supermarkt 8 km einfach). Damit ich manchmal meine nächsten Verwandten (380 km) besuchen kann. In das meine Ausrüstung für einen Zelturlaub reinpasst. Was brauche ich dafür? Ungefähr sowas wie einen Renault R4 seligen Angedenkens. Was brauche ich dafür nicht? Einen SUV mit Servolenkung, Klimaanlage und "voller Konnektivität".

  • So wird es vielleicht aussehen. Aber eine friedliche Vergesellschaftung der Automobilkonzerne scheint doch sehr fraglich zu sein, zumal nicht klar ist, ob es dann besser wird. Man müsste sie ja dann verbieten und ".., sich mit mächtigen Interessen anzulegen. " Nämlich der Interessen der Besitzer von über 40Mio Autos, die eine individuelle Mobilität ermöglichen.

    Auch scheint es als ob die gute Studie der Dachorganisation von Dachorganisationen die Vertreter aus dem Auge verloren hat, bzw. nie nah an der Basis war.



    Ob Beschäftigte bei Daimler oder VW sich wirklich fragen ", ob sie ihre Kompetenzen nicht besser für gesellschaftlich sinnvolle Produkte und Dienstleistungen verwenden sollten"??? Die wenigsten scheinen die Stelle freiwillig zu wechseln.

    Dabei kann die Studie durchaus vernünftig sein.