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Aus der Luft betrachtet: Das Neubaugebiet Jahnstraße/Gruscheweg in Neuenhagen bei Berlin Foto: Christian Thiel

Bauen und WohnenKampf um Grund und Boden

Die Ressource Land ist endlich. Das sorgt oft für Streit – auch in Neuenhagen. Von Wildschweinen, Verkehrslärm und der Frage: Wie wollen wir leben?

D ie Sache mit dem Wildschweinkopf löst in der Einfamilienhaussiedlung rund um den Gruscheweg immer noch Kopfschütteln aus. Sauber abgetrennt habe er eines Morgens im Garten gelegen. So erzählt es ein Nachbar in der drückenden Mittagssonne auf seiner Terrasse in Neuenhagen. Der Wildschweinskopf-Empfänger selbst will nicht mit der Presse sprechen. Andere Nachbarn bestätigen den Vorfall. Als der Gemeindejäger den Kopf am nächsten Tag abholen wollte, erzählt der Nachbar weiter, sei er wieder verschwunden gewesen. Merkwürdig. Ein gruseliger Teenagerstreich? Oder hat das etwas mit dem Streit um das Neubaugebiet zu tun?

In Neuenhagen, einer kleinen Brandenburger Gemeinde, die östlich an Berlin grenzt, leben rund 19.000 Menschen. Sie wohnen größtenteils in Eigenheimen, viele pendeln morgens zum Arbeiten nach Berlin und kehren abends zu ihrem Haus mit Garten zurück. Die S-Bahn fährt im 20-Minuten-Takt. Man ist hier stolz auf das Rathaus, einen alten 42 Meter hohen Wasserturm mit Backsteinfassade, und auf das über die Gemeindegrenzen hinweg bekannte Neuenhagener Freibad. Es gibt drei Anglervereine, zwei Fußballklubs und eine Ortsgruppe des Vereins für Deutsche Schäferhunde. Suchte man Drehorte für eine Vorstadt-Vorabend-Serie, man würde in Neuenhagen sicher fündig.

Selbst die Wildschweinposse fügt sich in dieses Bild einer Gemeinde, deren größtes Problem auf den ersten Blick ihre Nähe zur Natur zu sein scheint. Der Streit um die Wildtiere hatte sich seit Längerem zugespitzt. Die Be­woh­ne­r:in­nen eines neuen Wohngebiets im Norden von Neuenhagen, das hier seit 2017 entsteht, hatten nach einigen zu innigen Begegnungen mit der ortsansässigen Rotte Schutzmaßnahmen gefordert. Ein Zaun um das Neubaugebiet wurde errichtet.

Andere Neuenhagener sahen darin den Lebensraum der Wildtiere beschnitten. Die „Neubürger“ hätten wohl noch nie ein Wildschwein gesehen und würden jetzt „Panik verbreiten“, kommentierte jemand auf Facebook unter der Zaun-Meldung. Bereits zuvor tauchten Aufkleber rund um die Siedlung am Gruscheweg auf, an Laternen oder auf Mülleimern. „Wildschwein­reservat Gruscheweg“ steht auf einem. Auf einem anderen ist der Cartoon eines Wildschweins abgebildet. Oben drüber steht: „Our hood. Our rules.“ Unser Viertel. Unsere Regeln. Darunter: „Gegen das Projekt Gruscheweg.“

Aufreger Neubaugebiet

Das Projekt „Gruscheweg 6“, so der offizielle Name, das ist eines der größten Wohnneubaugebiete im Umland von Berlin. Auf rund 17 Hektar sollen hier in den kommenden Jahren Einfamilienhäuser, Reihenhäuser und Wohnungen für rund 1.000 Menschen entstehen. Die meisten Häuser sind bereits bewohnt, größtenteils von jungen Familien. In der Bienenstraße, im Tulpen-, Krokus- und Maiglöckchenweg reiht sich nun Stadtvilla an Stadtvilla. Die meisten weiß gestrichen, ein oder zwei Autos in der Einfahrt, perfekt geschnittene Rasen. Auch zwei Reihen mit viergeschossigen Mehrfamilienhäusern stehen am Rand. An weiteren Häusern wird noch gebaut, bei anderen steht noch nicht mal das Fundament. Die Wildschweine, die diesen Lebensraum ebenfalls für sich beanspruchen, sind der jüngste Aufreger in Neuenhagen. Der größte aber ist das Wohngebiet selbst.

taz am wochenende

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Der „Gruscheweg 6“ und die Frage nach dem Zuzug spalten einen Großteil des Ortes. Die einen sprechen mit Blick auf die dicht bebaute Fläche von „Großmannssucht“ und „Gigantismus“, die anderen von dringend benötigtem Wohnraum für Familien. Als Anfang des Jahres auf einer Bauankündigung für drei Eigentumswohnungen jemand mit einem Edding „Raus aus NHG“ kritzelte, schrieb ein Mitglied der Linken auf der Fraktionswebseite, dass sie dies an die Nazi-Umtriebe Anfang der 90er Jahre erinnere.

Der Konflikt um den Gruscheweg mag bizarr wirken. Neben Wildschweinkopf und Nazivergleich wird es um einen Poller gehen, der scheinbar magisch im Boden verschwindet. Um Drohschreiben von Baufirmen und einen Bürgermeister, dessen Verwaltung, möglicherweise sogar in seinem Sinne, von dessen eigenem Bruder verklagt wird.

Einfamilienhäuser und Verbotsdebatten

Eigentlich geht es in Neuenhagen um eine uralte Frage: Wer entscheidet, was mit der Ressource Land passiert? Einer Ressource, die wertvoll ist und die man nicht vermehren kann. Eine Ressource, die alle nutzen, aber nur wenige besitzen.

Die drängt gerade zurück an die Oberfläche. Medial taucht sie vor allem dann auf, wenn es um Großprojekte und Großflächen geht. Das Tesla-Werk in Grünheide, das Steinkohlekraftwerk Datteln IV in Nordrhein-Westfalen, das Tempelhofer Feld in Berlin. Dabei geht es neben vielen anderen Konflikten auch immer um die Frage: Wer hat Anspruch auf so viel Platz und für welchen Zweck?

Aber auch im Kleinen stellt sich die Landfrage immer öfter und drängender. In der ersten Verbotsdebatte, die den Grünen in diesem Jahr aufgezwungen wurde, ging es nicht um Autos, sondern um Eigenheime. Die Grünen (und die SPD) wollen im Norden von Hamburg in Neubaugebieten keine Einfamilienhäuser mehr errichten lassen. Ökologisch und sogar städtebaulich ist das sinnvoll. Doch als Grünen-Bundestagsfraktionschef Anton Hofreiter diese Politik in einem Spiegel-Interview verteidigte, brach die Hölle los. Dass jemand, der ein Stück Land erwirbt, nicht sein eigenes Haus bauen können soll, brachte das konservative Deutschland in Rage. Die Grünen erklärten eilig, dass sie Einfamilienhäuser nicht per se verbieten wollen – verwiesen aber gleichzeitig auf die Nebeneffekte von Flächenfraß und Zersiedelung. „Wir stecken in der Klimakrise. Da kann nicht alles bleiben, wie es war“, sagte Hofreiter dem Spiegel.

Das alte Neuenhagen wirkt noch beschaulich Foto: Christian Thiel

So wie es ist, soll es auch nach dem Willen der aktuellen Bundesregierung nicht ewig bleiben. Bis 2050 soll Deutschland nicht nur treibhausgas-, sondern auch flächenfraßneutral sein. Netto soll von da an kein Land mehr für neue Häuser und Straßen beansprucht werden. Soll heißen: Für jede Fläche, die neu versiegelt wird, soll woanders entsiegelt werden.

Doch zurzeit entstehen in Deutschland jeden Tag immer noch etwa drei Versionen des Gruschewegs. Die Siedlungs- und Verkehrsfläche ist zwischen 2016 und 2019 durchschnittlich um rund 52 Hektar pro Tag gewachsen. Der Trend ist zwar rückläufig, im Jahr 2000 lag der Wert noch bei 129 Hektar pro Tag. Aber gerade um Städte herum wird es von Jahr zu Jahr enger, werden immer mehr Flächen bebaut. Als Donut-Effekt beschreiben Stadt­ent­wick­le­r:in­nen das Phänomen aussterbender Ortskerne und aufgeblähter Peripherien.

Ähnliches gilt für das Umland von Großstädten. Hier steigt der Druck zwar auch im Inneren, die Immobilienpreise in den Speckgürteln sind im vergangenen Jahr aber so stark gestiegen wie in den Metropolen selbst. Im Berliner und Düsseldorfer Umland lagen die Preissteigerungen sogar erstmals deutlich über denen der Stadt.

In Neuenhagen haben sich die durchschnittlichen Grundstückspreise in den vergangenen zehn Jahren verdreifacht. Die Bevölkerung wuchs seit der Wende auf fast das Doppelte an, von rund 10.000 auf gut 19.000 Menschen. Diese Entwicklung lässt sich in jeder Gemeinde um Berlin herum beobachten. Die Kommunen profitieren vom Zuzug, selbst wenn die Menschen nicht im Ort selbst arbeiten. Einen Großteil ihrer Einnahmen generieren sie über die Grundsteuer, ihren Anteil an der Einkommensteuer und die Zuweisungen des Bundeslandes. All das steigt, je mehr Menschen in der Gemeinde leben.

Bloß lässt sich das Geld oftmals gar nicht so schnell ausgeben, wie die Ansprüche steigen. Einfamilienhäuser sind meist zügiger gebaut als Straßen und Schulen. Und rasantes Wachstum ist nicht nur eine Herausforderung für die Natur, sondern auch für das Zusammenleben. Christian Hentschel, der Bürgermeister von Schönefeld, einer Gemeinde nur wenige Kilometer von Neuenhagen entfernt, brachte das kürzlich ganz bürokratisch auf den Punkt: „Ein Spannungsverhältnis ergibt sich dann hinsichtlich des Veränderungsdrucks, dem auch die angestammte Bevölkerung ausgesetzt ist.“

Ein Bürgermeister will die „Gartenstadt“

Im Fall von Neuenhagen wirkt das Wort Spannungsverhältnis fast euphemistisch. An einem Frühlingstag steht Ansgar Scharnke, ein Mann mit kurzen, grau melierten Haaren und runder Rahmenbrille, in der Mitte des Baugebiets „Gruscheweg 6“. Zahlreiche Mähroboter drehen emsig ihre Runden in den Vorgärten. „Die wirken schon wie ein Fremdkörper im Ortsbild“, sagt Scharnke und zeigt auf die weißen Viergeschosser, die auffallen im ansonsten flach bebauten Ort.

Bürgermeister Ansgar Scharnke ist in Neuenhagen aufgewachsen Foto: Edgar Neschok

Ihm ist das hier alles zu viel, die Viergeschosser zu hoch, die Einfamilienhäuser zu dicht aneinander gebaut. Scharnke, Jahrgang 1973 und in Neuenhagen ausgewachsen, ist nach Sta­tio­nen in Frankfurt am Main und London 2011 wieder in seinen Heimatort zurückgekehrt. Mit der Gemeinde, wie er sie kannte, mit der „Gartenstadt“, wie es im Neuenhagener Gemeinde-Marketing heißt, hat diese Bebauung nicht mehr viel zu tun, findet er. Er erzählt mit ruhiger und klarer Stimme, oft mit der Präzision des Juristen, der er ist. Dass der Konflikt hier sein Leben in eine andere Richtung gelenkt hat, merkt man ihm nicht an.

Nur rund 100 Meter vom Gruscheweg entfernt rauscht die sechsspurige A 10 vorbei, der Berliner Autobahnring. Den Verkehrslärm kann man auch um die Mittagszeit gut hören. Und er ist einer der Gründe, warum Scharnke das Gebiet nicht oder zumindest anders bebaut hätte. „Das Lärmschutzgutachten von 2001 passt vorne und hinten nicht für die aktuell geplante Bebauung“, sagt der Jurist Scharnke.

Noch mehr als der Autobahnverkehr treibt Scharnke jedoch der Verkehr im Ort um. Südlich des Neubaugebiets führen zwei kleine Straßen, ebenfalls gesäumt von Einfamilienhäusern mit großzügigen Gärten, entlang. Die Jahnstraße und die Fichtestraße. Die Straßen sind so schmal, dass zwei Autos, wenn sie aufeinander zufahren, abbremsen müssen, um sicher aneinander vorbeizufahren. Dass hier künftig ein Großteil des Verkehrs einer 1.000-Einwohner-Siedlung durchgeleitet werden soll, empört Scharnke. Er ist in der Jahnstraße aufgewachsen. Seine Mutter und auch sein Bruder wohnen noch hier. Scharnke unterstützte von Anfang an eine Bürgerinitiative der An­woh­ner:innen, die sich 2017 gründete. Ihr Ziel: Jahn- und Fichtestraße vom „Gruscheweg 6“ zu trennen.

In vielen Vorgärten des Neubaugebiets Gruscheweg sorgen Mähroboter für exakte Rasenhöhe Foto: Christian Thiel

In der Gemeindevertretung ist Scharnke seit 2014 aktiv, als Mitglied einer Wählergemeinschaft namens „Die Parteilosen“. Mit dem „Gruscheweg 6“ hat er ein Thema gefunden, das ihn nicht mehr loslässt. Er will sich noch stärker engagieren, und er bekommt ein Mandat dafür: Am 18. März 2018 wählen 76,8 Prozent der Neu­en­ha­ge­ne­r:in­nen Ansgar Scharnke zu ihrem Bürgermeister. Eines seiner Wahlversprechen lautet: Neuenhagen als „Gartenstadt“ erhalten.

Eine CDUlerin will Entwicklung

Man kann diese Wahl auch als eine Abstimmung über den Gruscheweg lesen. Seine Gegenkandidatin in der Stichwahl ist die ehemalige Leiterin der Bauverwaltung, unter deren Federführung das Baugebiet entwickelt wurde. Die Erwartungen an Scharnke sind groß. Aber kann ein Bürgermeister in einem großteils fertiggestellten Wohngebiet noch viel ausrichten? Oder ist die Landfrage hier schon entschieden?

Fragt man Corinna Fritzsche-Schnick, dann ist sie das. Fritzsche-Schnick ist wie Scharnke in Neuenhagen aufgewachsen und ebenfalls Juristin. Sie sieht die Dinge hier ganz anders. „Nur weil einige hier Idylle wollen, können wir nicht die Entwicklung des Ortes stoppen“, sagt sie mit lauter Stimme in einem Gespräch, das aufgrund der Coronalage am Telefon stattfindet. Als sie Kind war, erinnert sie sich, habe man sich zwar noch gegrüßt auf der Straße, aber es habe auch nicht gerade jeder jeden gekannt. „Neuenhagen war noch nie ein Nest“, sagt sie.

Fritzsche-Schnick hält einen Großteil der Kritik für eine Neiddebatte. Nimby – Not in my backyard – nennt man das, wenn Menschen, die eine Veränderung zwar generell befürworten, sich dagegen wehren, wenn sie selbst davon betroffen sind. In Deutschland wird der Begriff immer häufiger im Kontext der Energiewende gebraucht und beschreibt zum Beispiel das Phänomen, dass eine Mehrheit der Bür­ge­r:in­nen den Ausbau erneuerbarer Energien zwar befürwortet, viele aber Windräder und Stromtrassen nicht in eigener Sichtweite haben wollen.

Folgt man Fritzsche-Schnick, dann sind Scharnke und die anderen Mitglieder der Bürgerinitiative Nimbys. Individuelle Interessen würden vor jene der Gemeinde gestellt: Verkehr ja, aber bitte nicht vor meiner Haustür. „Ich sehe auch, dass hier mehr Autos fahren als früher“, sagt Fritsche-Schnick. Anders als Scharnke hält sie den Verkehr aber für beherrschbar. „Wir sind ein gesundes Mittelzentrum. Wem das nicht passt, der muss in die Uckermark gehen“, sagt sie. Auch Fritzsche-Schnick weiß eine demokratische Mehrheit hinter ihrer Haltung. Sie ist Fraktionsvorsitzende der CDU in der Neuenhagener Gemeindevertretung. Einer Gemeindevertretung, die die Planung zum Gruscheweg mehrheitlich beschlossen hat.

Corinna Fritzsche-Schnick ist Vorsitzende der CDU-Gemeinderatsfraktion von Neuenhagen Foto: Christian Thiel

Zwei Menschen, beide im Ort verwurzelt und politisch engagiert. Und beide mit komplett unterschiedlichen Interessen und Wünschen bezüglich ihrer Heimat und der Frage, was mit einer Fläche im Ort geschehen soll. Das Verhältnis der beiden ist, vorsichtig formuliert, angespannt. „Die Partei­losen“ hat der politische Wettstreit Ende 2020 gar dazu inspiriert, eine groteske Weihnachtsgeschichte über die beiden zu veröffentlichen, in der sie den Gelehrten „Anselm“ für das „Burgenland“ und gegen die herrische „Carina“ antreten lassen. Lässt sich die Landfrage hier überhaupt lösen?

Die Sache mit dem Bebauungsplan

Die naheliegende Antwort klingt zunächst öde. Sie heißt: öffentliches Baurecht. Oder genauer: der Bebauungsplan. Das Grundrecht auf Eigentum gilt grundsätzlich auch für ein Stück Land. Kapitalistisch übersetzt bedeutet das: Mit Grund und Boden wird natürlich Geld verdient. Der Philosoph Jean-Jacques Rousseau sieht das Landeigentum sogar als Ursprung des Kapitalismus an: „Der Erste, der ein Stück Land mit einem Zaun umgab und auf den Gedanken kam, zu sagen: „Dies gehört mir“, und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der eigentliche Begründer der bürgerlichen Gesellschaft“, schreibt Rousseau im „Diskurs über die Ungleichheit“.

Im Fall vom „Gruscheweg 6“ gehörte das Land nach der Wende der Kirche. Diese verkaufte es in den 90er-Jahren an das Immobilienunternehmen SIWOGE. 2016 betrug der Jahresüberschuss der SIWOGE, die nur in Neuenhagen und der benachbarten Gemeinde Rehfelde Land besitzt, 1.600 Euro. Ende 2016 wurde der Gruscheweg Bauland, die SIWOGE begann die Flächen zu veräußern. 2017 sprang der Jahresüberschuss der SIWOGE auf knapp 3 Millionen Euro.

Aber: Eigentum verpflichtet auch, und hier kommt der Bebbauungsplan ins Spiel. Dieser konkretisiert das Eigentum und ist damit das Instrument, das die Landfrage in Deutschland demokratisiert. So erklärt es der Baurechtler Franz Dirnberger. „Das Eigentumsgrundrecht des Grundgesetzes erlaubt nicht, das Grundeigentum nach Belieben zu nutzen“, sagt Dirnberger. Etwas einfacher formulierte es Anton Hofreiter während der Einfamilienhaus-Debatte im Spiegel: „Wo was steht, entscheidet allerdings nicht der Einzelne, sondern die Kommune vor Ort.“ Formal ist ein Bebauungsplan ein Gesetz, das mit einfacher Mehrheit beschlossen werden muss. Und nicht nur das: Die Kommune muss dabei die Bür­ge­r:in­nen und öffentliche Stellen beteiligen und „eine dem Wohl der Allgemeinheit dienende sozial gerechte Bodennutzung unter Berücksichtigung der Wohnbedürfnisse der Bevölkerung gewährleisten“. So steht es im Paragraf 1 des Baugesetzbuches.

Natürlich gibt es auch für das streitige Neuenhagener Wohngebiet „Gruscheweg 6“ einen Bebauungsplan. Beschlossen von der Gemeindevertretung am 8. Dezember 2016 mit 17 zu 5 Stimmen bei 3 Enthaltungen. Frit­zsche-Schnick stimmte für den Plan, Scharnke dagegen. Punktsieg für die CDU-Frau, könnte man meinen. Das Problem – und hier wird es wirklich verzwickt: Der Plan enthält einen Fehler.

Im Oktober 2020 setzte das das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg den Bebauungsplan in einem Eilverfahren vorläufig außer Vollzug. Neue Bauvorhaben konnten damit nicht beginnen. Am 25. März 2021 erklärte das Gericht den Bebauungsplan dann für vollständig nichtig. Rechtlich ist das Gebiet aktuell also wieder Brachland, als hätte es nie einen Bebauungsplan geben. Gegen die Gemeinde hatten fünf An­woh­ne­r:in­nen der Jahn- und Fichtestraße geklagt, darunter auch der Bruder von Ansgar Scharnke. Das Gericht rügte, wovor die An­woh­ne­r:in­nen und die „Parteilosen“ jahrelang gewarnt hatten. Ein Verkehrsgutachten wurde ignoriert. Die Verkehrsanforderungen und die Interessen der An­woh­ne­r:in­nen seien nicht ausreichend gegeneinander abgewogen worden. „Das war keine gute Arbeit“, sagte der Vorsitzende Richter während der Verhandlung. „Es fehlt die ordnende Hand.“

Dass Bebauungspläne für nichtig erklärt werden, passiert eher selten. Oftmals können Fehler, wenn sie auftreten und erkannt werden, von der Gemeinde korrigiert werden. In Neuenhagen ist die Gemengelage komplizierter. Der Gemeindeverwaltung sitzt mit Ansgar Scharnke jemand vor, der ein erklärter Gegner des Projekts ist. Hatte er überhaupt ein Interesse daran, den Bebauungsplan nach seiner Wahl zum Bürgermeister zu korrigieren? Die Klage gegen den Plan und seine eigene Gemeinde müsste ihm im Grunde ja recht gewesen sein.

Immobilienkonzerne machen Druck

Der Baustopp in Neuenhagen zeigt, welche Interessen und Erwartungen unterschiedliche Ak­teu­r:in­nen an einen Bebauungsplan und die Ressource Land haben. Die Landfrage, die oft komplex und undurchsichtig erscheint, wird in Neuenhagen recht gut ausgeleuchtet.

Da sind zum Beispiel die beteiligten Immobilienkonzerne. Seit dem Baustopp drohen die SIWOGE und die mit dem Bau beauftragten Firmen der Gemeinde mit Schadensersatzforderungen. In einem Ton, der nicht allzu viel Raum für Interpretationen lässt.

In einem Brief, der der taz vorliegt, schreiben vier am „Gruscheweg 6“ tätige Baufirmen – Heinz von Heiden, Hermann Gruppe, Immogain und Norddeutsche Wohnbau – am 30. November 2020 an Bürgermeister Scharnke: „Es dürfte Ihnen sicherlich klar sein, dass den beteiligten Projektentwicklern und der SIWOGE damit ein erheblicher wirtschaftlicher Schaden entsteht, den wir als unmittelbar Betroffene an die Verursacher dieser misslichen Situation weiterleiten werden.“ Und die Verfasser lassen keinen Zweifel daran, wen sie als Verursacher der misslichen Lage sehen: Scharnke.

Tatsächlich war die ungelöste Verkehrsfrage schon ein Problem für die Gemeinde, bevor Scharnke Bürgermeister wurde. Kurz vor seiner Wahl wurde der Bau eines absenkbaren Pollers zwischen dem Gruscheweg und der Jahnstraße beschlossen. Aufgestellt wurde er im Juni 2018, doch schon im August war er wieder unten, der Verkehr konnte weiter ungehindert fließen. Dies sei „unter Zutun der Gemeinde erfolgt“, behaupten die Baufirmen im Brief an Scharnke. Damit habe er den Baustopp „geradezu provoziert“. Und weiter: „Wir behalten uns daher jegliche Schadensersatzansprüche gegen die Gemeinde Neuenhagen bei Berlin vor. Insbesondere für den Fall, dass entgegen besseren Wissens nicht umgehend eine Heilung des fehlerhaften Bebauungsplans herbeigeführt wird.“ Das Wort umgehend ist gefettet und unterstrichen.

Scharnke weist diese Vorwürfe in einem Antwortschreiben zurück. Er habe als einer von nur fünf Gemeindevertretern 2016 gegen den fehlerhaften Bebauungsplan gestimmt und dabei auf die Verkehrsproblematik hingewiesen. Außerdem habe seine Verwaltung viermal versucht, den Bebauungsplan zu korrigieren, sei aber jeweils an der Gemeindevertretung gescheitert. Was Scharnke nicht schreibt: Bei seinen Versuchen, den Bebauungsplan zu korrigieren, ging es gar nicht um Verkehr, sondern um den Lärmschutz, den er ebenfalls für nicht ausreichend gesichert hält. Um die Verkehrsproblematik im Bebauungsplan zu lösen, hätte die Zeit bis zum Urteil ohnehin nicht gereicht, sagt Scharnke der taz.

Neu gebaut wird in Neuenhagen nur noch mit Balkon Foto: Christian Thiel

Der Eindruck, dass der Verkehr zu Recht von den An­woh­ne­r:in­nen beanstandet wird und dies Scharnke ganz gelegen kam, lässt sich nicht ganz von der Hand weisen. Nach dem Urteil schreibt er auf der Webseite der „Parteilosen“: „Wir sollten uns jedoch nicht dazu verpflichtet sehen, die bisher geplante, dichte Bebauung der noch unbebauten Grundstücke entgegen dem Gartenstadtcharakter unserer Gemeinde nun in Beton zu gießen.“ Dennoch weiß auch Scharnke, dass ein kompletter Baustopp, wenn überhaupt, nur mit erheblichen Verwerfungen durchzusetzen wäre, nicht zuletzt für jene Menschen, die bereits Bauland auf dem Gebiet erworben haben. Sein Ziel sei nun eine „lockere Bebauung mit Einfamilienhäusern, die auch Platz für Gärten und Naturräume lässt“. Punktsieg für Scharnke?

Auf der anderen Seite steht immer noch Corinna Fritzsche-Schnick, die das offensichtlich mit allem Mitteln verhindern will – auch mit fragwürdigen Mitteln. Zusammen mit einer Gemeindevertreterin der Linken traf sie sich in der Hochphase der zweiten Coronawelle im Bürgerhaus mit Vertretern der Baufirmen. Was dort beredet wurde, steht in keinem Protokoll. Die seien auf sie zugekommen, sagt Fritzsche-Schnick zu dem Treffen. Besprochen wurden „keine Interna“, sondern nur „Allgemeines“. Dass ein solches exklusives Treffen mit Baufirmen, die der Gemeinde mit Schadensersatz drohen, zumindest komisch aussehe, teilt Fritzsche-Schnick nicht. „Ich spreche mit jedem“, sagt sie.

Erst bauen, dann kümmern?

Nun ist die Landfrage kein Boxkampf, auch nicht zwischen Scharnke und Fritzsche-Schnick in Neuenhagen. Der Konflikt um den Gruscheweg zeigt aber, wie ernst den Menschen die Frage werden kann, wenn sie sich bei der Suche nach der Antwort übergangen fühlen. In einem rbb-Beitrag aus dem Jahr 2017 sieht man den alten Neuenhagener Bürgermeister auf dem noch unbebauten Gruscheweg stehen. Auf die sich damals schon abzeichnenden Probleme angesprochen, sagt er sinngemäß: Wir bauen erst mal, den Rest klären wir später. Und vielleicht liegt hierin ein Teil der Antwort. Wo Flächen knapper werden, braucht es umso mehr Einbindung und Öffentlichkeit. Die Landfrage, so könnte man es formulieren, muss wieder politischer werden.

Die Gemeinde Neuenhagen wartet aktuell auf die Urteilsbegründung des Oberverwaltungsgerichts. Viele hoffen auf eine detaillierte Ausführung der Richter, die einen Weg vorzeichnen könnten zu einem Ende des jahrelangen Streits. Und auch wenn es derzeit nicht danach aussieht: Es wird eine Lösung für den „Gruscheweg 6“ geben, da sind sich alle Beteiligten ausnahmsweise einig. Alternative Verkehrskonzepte werden erarbeitet. „Wir sind dabei, uns anzunähern“, sagt Bürgermeister Ansgar Scharnke. „Wir haben alle Fehler gemacht, aber wir werden einen Weg finden“, sagt Gemeindevertreterin Corinna Fritzsche-Schnick.

Auch wenn man mit den Be­woh­ne­r:in­nen des „Gruscheweg 6“ spricht, entsteht der Eindruck, dass die Landfrage in Neuenhagen zwar mit ungewöhnlichen Mitteln ausgefochten wird, aber doch lösbar ist. Mit Namen will sich zwar kei­ne:r der Befragten zitieren lassen. Aber die Mehrheit sagt, dass sie trotz allem gern in Neuenhagen wohnt.

Es scheint, als wären die meisten hier auf Frieden aus. Auch der Nachbar, der vom Wildschweinkopf berichtet, fühlt sich wohl in seinem Haus mit Garten am Gruscheweg. Er habe einen Verdacht, wer den Kopf geworfen habe, wolle der Sache aber nicht weiter nachgehen. Der Blick gehe nach vorn.

Die Landfrage wird die Kommunen weiter beschäftigen, nicht nur in Neuenhagen. Der Baurechtler Dirnberger, der auch Geschäftsführer des bayrischen Gemeinde- und Städtetages ist, sagt, dass es in Bayern kaum noch einen Bebauungsplan gibt, gegen den nicht geklagt wird. Die Hürden dafür seien relativ niedrig, und die Bür­ge­r:in­nen würden es immer stärker nutzen.

Der Siedlungsdruck, angeheizt durch die jahrelang niedrigen Zinsen, wird erst mal weiter zunehmen. Verstärkt wird er durch Instrumente wie das Baukindergeld und das kürzlich verlängerte Baumobilisierungsgesetz. Wie es nach der Bundestagswahl im Herbst weitergeht, ist offen. Die Grünen wollen den Flächenverbrauch bis 2030 halbieren. Im CDU-Wahlprogramm findet sich der Satz: „Wir wollen mehr Flächen für den Wohnungsbau mobilisieren.“ Die Idee eines Flächenzertifikathandels, im Entwurf noch enthalten, flog in der endgültigen Fassung raus.

Auch Neuenhagen wird weiter wachsen. Die Gemeindevertretung hat bereits die Erarbeitung eines neuen Bebauungsplans angestoßen, es soll das vorerst letzte große Baugebiet im Ort werden. Sein Name: Gruscheweg 7.

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2 Kommentare

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  • Es gibt in Deutschland im Durchschnitt kein Problem mit Bauland, in Nordhessen, Friesland, Nordbayern und weiten Teilen Ostdeutschlands gibt es viel Angebot bei überschaubarer Nachfrage.



    Der Markt sollte dafür sorgen, daß die Nachfrage aus urbanen Zentren sich dorthin verlagert.



    Eine Verteilung des Mangels durch nicht-Preis-Mechanismen würde nämlich nichts am Mangel ändern, sondern nur neue Ungerechtigkeiten schaffen (private Altersversicherungen versus Mieterinteressen, wobei der Mieter durchaus wirtschaftlich stärker sein kann)

  • Sorry für die Investoren.



    Wenn die Gemeinde nicht will, kann niemand ein Heilungsverfahren erzwingen.



    Schadenersatz ist ausgeschlossen.



    Auch für Fehler des ersten Verfahrens.



    Der Ausfall einer Begünstigung ist schließlich keine Schädigung. Außerdem ist davon auszugehen, dass der Plan eh durch ein externes Büro erstellt und von den Grundstückseigentümern bezahlt wurde. So ist das üblich.