Premiere an der Komischen Oper Berlin: Viel Zeit zum Nachdenken
Tobias Kratzer hat für die Komische Oper Berlin den „Zigeunerbaron“ von Strauss neu bearbeitet und inszeniert. Zur Premiere kam Live-Publikum.
Acht Monate Quarantäne sind eine lange Zeit. Sie ist nun vorbei an der Komischen Oper. Wer einen negativen Test, doppelte Impfung seit mindestens 14 Tagen oder eine Genesung von Covid-19 am Eingang nachweisen kann (Personalausweis und FFP2-Maske nicht vergessen!), darf hinein und Platz nehmen auf den reservierten Sesseln. Die hygienischen Lücken dazwischen sind sichtbar, trotzdem wirkt der Saal ordentlich gefüllt. Wenn Schönberg gespielt wird, ist es auch nicht besser.
Es kann also wieder losgehen mit der Oper, aber die ersten Schritte fallen schwer. Alles sieht gewohnt und fremd zugleich aus, unwirklich. Wahrscheinlich kann es nie wieder so sein wie vor der Pandemie. Die Erfahrungen des Mangels und der Angst werden bleiben.
Barrie Kosky begrüßt uns glaubhaft herzlich und dankt uns dafür, dass wir seinem Haus treu geblieben sind. Haben wir jemals einen Treueschwur abgelegt? Wohl kaum. Wir wollten Opern haben, und Operetten natürlich auch. Wir haben sie bekommen, hier meistens sogar besser als anderswo. Wollen wir sie wieder haben? Und warum?
Worüber es nachzudenken gilt
Darüber gilt es nachzudenken. Tobias Kratzer gibt dafür die Zeit und den Raum. Lange vor der Generalquarantäne hat ihn Kosky für eine neue Inszenierung einer Operette von Johann Strauss an sein Haus geholt, die keinen besonders guten Ruf genießt: „Der Zigeunerbaron“.
Ein wenig reaktionär wurde die Geschichte um einen kakanischen Grafen, einen hergelaufenen Großgrundbesitzer, einen Schweinezüchter mit Tochter und Gouvernante und einer Zigeunerin mit besonders schöner Tochter schon immer empfunden. Ein möglichst prächtig kostümierter Chor konnte daran auch nichts ändern. Die Zigeuner sind am Ende die besten Krieger und retten gleich das ganze Vaterland.
Braucht man nicht mehr, Operettensehnsucht hin oder her. Genau das hat Kratzer interessiert. Inzwischen ist ja schon das Z-Wort skandalös. Das ist gut so, meint der mit Preisen überhäufte, 41 Jahre alte Regisseur, der in seiner Biografie unter anderem ein Studium der Philosophie angibt. Er hat gelernt, Fragen eher zu stellen als zu beantworten.
Selbstverständlich diskriminierend gemeint
Das Z-Wort im Titel, das auf dem Spielplan überflüssigerweise und ungrammatisch allein in Anführungszeichen steht, ist noch das geringste Problem. Selbstverständlich ist es diskriminierend gemeint. Dominik Köninger rotzt in der Rolle des Grafen Homonay eine endlose Tirade an Fremdenhass aus sich heraus, damit von Anfang an klar ist, worum es hier geht. Um ein strukturelles Problem nämlich, das 1885, dem Jahr der Uraufführung des Werkes, nicht viel anders aussah als heute.
Was kann man dagegen tun? Für Kratzer greift diese Frage viel zu kurz. Er fragt vor allem in der Partitur von Strauss nach und hat dafür die überlangen, gesprochenen Dialoge des originalen Librettos gekürzt und zugespitzt. So rückt eine Musik ins Zentrum, die selbst immer nur Fragen zu stellen scheint.
Ja, wunderbare Ohrwürmer klingen auf, aber sie führen nirgendwo hin, gehen in Stilbrüchen unter und kommen nie zur Ruhe. Darum ist diese musikalisch verwirrende Folge von Einzelnummern, Soli, Ensembles und Chören die angemessene Form einer Gesellschaft, die niemals mit sich selbst in Frieden leben kann.
Der Rausch stellt sich nicht ein
Es ist wunderbar, den Klang von Singstimmen und Instrumenten endlich wieder live zu hören, das Erlebnis des Rausches, den große Aufführungen auch von Operetten vermitteln können, stellt sich jedoch nicht ein.
Das liegt nicht daran, dass das Orchester in den Bühnenhintergrund verbannt ist, weil Kratzers Bühnenbildner Rainer Sellmaier den Graben mit einer bespielbaren Treppe zugebaut hat. Stefan Soltés dirigiert mit souveräner Eleganz und Achtsamkeit auf Brüche und Komplexität. Zu hören ist daher keine Operette, sondern die Bühnenmusik eines Lehrstücks.
Kratzers theatralische Fantasie ist verblüffend. Auf der leeren Bühne vor einem schwülstigen Palastportal bilden sich Gruppen, gesellschaftliche Konstellationen. Philipp Meierhöfer bekommt als Schweinezüchter Zsupán ein Videoporträt als Metzgermeister im eigenen Laden. Andere hantieren mit Geräten, bauen Strandzelte auf. Mittendrin steht ein historisches Trichtergrammofon für die alten Platten, die da immerzu wieder gespielt werden: Patriotismus, Romantik und Ähnliches.
Ein brechtsches Einfühlungsverbot
Es gibt die klassischen zwei Liebespaare, Alma Sadé und Julian Habermann sind als Arsena und Ottokar das junge, Mirka Wagner und Thomas Blondelle als Saffi und Barinkay das erwachsene. Sie singen sehr schön, rühren aber niemanden. Kratzer hat ein allgemeines, brechtisches Einfühlungsverbot verordnet, damit wir besser denken können. Die Frauen vor allem kämpfen hart, aber vergeblich, um Anerkennung in dieser Welt der Macht, der Gier und des Hasses.
Das ist nicht schön und kein Vergnügen, aber das Beste, was am Anfang der Rückkehr ins Opernleben stehen kann. Mag sein, dass wir bald wieder tragisch erschüttert oder fröhlich erheitert nach Hause gehen. Das Nachdenken jedoch über die Gesellschaft der Werke muss bleiben, die hier gespielt werden. Für Kratzers didaktische Art des Theaterspiels war die willkürliche Dramaturgie der Pandemie ein Glücksfall.
Seine Lektion sitzt. Und auch Kossky nutzte den Augenblick. Er übergab die sonst nur hausinternen Preise für die beste Leistung des nichtkünstlerischen Personals dieses Mal öffentlich und im vollen Rampenlicht auf der Bühne. Die Geehrten bedankten sich freundlich und der Applaus im Saal war mindestens so laut wie zuvor. Großes Theater.
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