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Feier der ersten freien Wahl

LIBYEN Die Parlamentswahlen verlaufen weitgehend friedlich. Im Osten kommt es vereinzelt zu Zwischenfällen. Befragungen zufolge liegt die liberale Allianz in Führung

„Ich hätte nie gedacht, dass ich das noch erleben darf“

KAMARI TEKBALI, 84, ERSTWÄHLERIN

AUS TRIPOLIS KARIM EL-GAWHARY

Die Feierlichkeiten in Tripolis nach Schließung der Wahllokale bei den libyschen Parlamentswahlen waren symptomatisch für den Zustand des nordafrikanischen Landes. In der Omar-al-Mukhtar-Straße, ein paar hundert Meter hinter dem Platz der Märtyrer, auf dem Gaddafi seine letzte öffentliche Rede gehalten hat, stauen sich die Autos mit schwarz-rot-grüne Fahnen schwenkenden, begeisterten Menschen, die die erste landesweite Wahl nach 40 Jahren Gaddafi feiern.

Ein Gruppe leicht überforderter Milizionäre, die Kalaschnikows locker über die Schulter geworfen, versucht verzweifelt, den Verkehr zu regeln, während die Insassen zweier im Stau stehender Polizeiautos wie Kinder in das Hupkonzert mitstimmen, den Milizionären freundlich zuwinken und singen: „Hebt euren Kopf, wir sind alle freie Libyer.“ Eine interessante Autoritätsaufteilung im Zentrum von Tripolis.

Der Grund der Feier: Trotz mancher Unkenrufe war der Wahltag weitgehend friedlich und fair verlaufen. In 98 Prozent der Wahllokale waren die Stimmen abgegeben worden. Die Beteiligung lag bei 60 Prozent. Störaktionen einer selbst im Osten des Landes kleinen Minderheit von Separatisten blieben eine Randerscheinung. Bei einer Schießerei in der Nähe eines Wahllokales in der östlichen Kleinstadt Ajdabiya starb eine Person; in mehreren Wahllokalen wurden Urnen angezündet. Am Vortag war in der Nähe ein Hubschrauber mit Wahlmaterial beschossen worden, dabei kam ein Wahlhelfer ums Leben.

Aber selbst auf den Straßen Bengasis im Osten des Landes, der Hochburg der Separatistenbewegung, die die Sitzverteilung im jetzt gewählten Nationalkongress als ungerecht empfindet, wurde Samstagnacht die Wahl gefeiert. Die bisherige Regierung, der Übergangsrat, hatte bestimmt, dass die Sitze im ersten Übergangsparlament nach dem demografischem Gewicht der Provinzen zugeteilt werden. Danach bekam im 200-köpfigen Parlament der bevölkerungsreiche Westen des Landes 100, der Osten 60 und der Süden 40 Sitze.

Das neue Parlament wird nun eine Regierung bestimmen und ein Jahr lang Gesetze erlassen. Nach den Spannungen im Osten hatte der Übergangsrat in letzter Minute vor den Wahlen erklärt, dass der Nationalkongress nun doch nicht das Recht habe, ein Verfassungskomitee zu bestimmen. Das solle in einem separaten Vorgang geschehen. Details waren zunächst nicht bekannt.

Männer und Frauen hatten sich schon in den frühen Morgenstunden getrennt vor den Wahllokalen in Tripolis angestellt. Nachdem er seiner Stimme abgegeben hat, kommt der Zahnarzt Nasr Eddin Et-Takalli aus dem Wahllokal und hebt seine Hand mit dem in nichtabwaschbarer Tinte getauchten Finger zum Siegeszeichen. „Ich bin 60 Jahre alt, in diesem Alter habt ihr in Europa schon 20-mal gewählt. Ich kann dir nicht beschrieben, wie gut sich das anfühlt“, erklärte er. Dann kommt eine ganz besondere Erstwählerin. Die Frauen in der Warteschlange lassen die sich auf wackligen Beinen bewegende und von ihrer Tochter gestützte 84-jährige Kamari Tekbali nach vorne. „Ich hätte nie gedacht, dass ich das noch erleben darf“, sagt sie mit schwacher Stimme.

Auch die 20-jährige Studentin Malak Shanbar in ihrem T-Shirt mit der Aufschrift „Proud to be Libyan“ ist voller Überschwang. „Das ist meine erste Wahlerfahrung, nicht nur für mich, sondern für alle Libyer nach 42 Jahren Gaddafi. Vorher sind wir fast erstickt, und jetzt können wir bestimmen, wie wir das neue Libyen aufbauen“, erklärt sie. Ein junger Mann, eingehüllt in die Nationalflagge, steckt seinen Wahlzettel in die Urne, um sich zu einem kurzen Dankesgebet im Wahllokal auf den Boden zu werfen. „Wir danken den Toten des Aufstandes gegen Gaddafi, die mit ihrem Blut diesen Festtag möglich gemacht haben“, steht auf dem T-Shirt eines anderen jungen Mann, der sich am Eingang postiert hat.

Jetzt wartet das Land mit Spannung, ob die islamisch-konservativen oder die liberalen Parteien gewinnen. Wahlbeobachter meldeten nach Wählerbefragungen einen Vorsprung für die liberale Allianz von Mahmud Dschibril. Bei 140 Parteien und 3.700 Kandidaten und Kandidatinnen dürfte es einige Tage dauern, bis das Endergebnis verkündet werden kann.

Meinung + Diskussion SEITE 12

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