Stiko-Chef zu Debatte um Kinderimpfung: „Gut, dass ich kein Politiker bin“
Die Corona-Impfung ab 12 wird nicht generell empfohlen. Der Stiko-Vorsitzende Thomas Mertens über die Gründe – und warum er trotz böser Briefe sein Amt gerne ausübt.
taz: Professor Mertens, Sie und die Ständige Impfkommission (Stiko) standen unter enormer Beobachtung vor Ihrer aktuellen Empfehlung zu den Kinderimpfungen. Hat Gesundheitsminister Spahn Sie angerufen und gesagt, jetzt empfehlen Sie das doch mal?
Nein, hat er nicht. Das Problem war doch nicht die Stiko, sondern die Tatsache, dass in der Politik, schon bevor überhaupt der Impfstoff zugelassen wurde, so massiv über den Einsatz in dieser Altersgruppe diskutiert wurde, mit Plänen für Reihenimpfungen und so weiter. Das war auch für uns neu und aus meiner Sicht nicht glücklich, das muss man ganz klar so sagen.
Jedenfalls empfiehlt die Stiko den Impfstoff jetzt nicht für alle Kinder und Jugendlichen ab 12, sondern nur bei bestimmten Risikofaktoren. Lassen Sie uns in aller Kürze noch einmal die Gründe zusammentragen.
Es ist ja zunächst zu betonen, dass wir bei der Stiko nicht zusammensitzen, uns gegenseitig Meinungen erzählen und dann setzt sich der Lauteste durch. Wir diskutieren die vorliegenden wissenschaftlichen Daten nach einer festgelegten, ebenfalls wissenschaftlichen Vorgehensweise. Unser Job besteht darin, auf der Basis der besten verfügbaren Evidenz eine Empfehlung zu erarbeiten. In diesem Fall ging es einerseits um die Gefährdung der Kinder durch eine Infektion mit Sars-Cov-2 und auf der anderen Seite die Erkenntnisse zur Sicherheit des Impfstoffs in dieser Altersgruppe. Das hängt unmittelbar zusammen: Je geringer die Gefährdung durch die Krankheit, desto sicherer muss die Impfung sein. Das leuchtet sicher jedem ein.
Das ist auch der Unterschied zu der Bewertung der Covid-19-Impfstoffe bei den Erwachsenen?
Das stimmt. Es gibt aber auch noch extremere Beispiele. Nehmen Sie mal eine Ebola-Epidemie in Afrika, bei der 60 Prozent der Infizierten sterben. Dann ist die Betrachtung der Sicherheit des Impfstoffes natürlich eine ganz andere, als wenn Sie eine Infektion haben, die für diese spezielle Altersgruppe eigentlich kein großes Risiko darstellt.
Sie meinen sicher das niedrige Versterbensrisiko von 0,001 Prozent in der Altersgruppe 12 bis 17?
Moment, das ist zu schnell gesagt. Es gab in Deutschland 2 Todesfälle in der Altersgruppe, so ergeben sich die 0,001 Prozent. Aber beide waren bereits vor Covid-19 sehr schwer erkrankt. Für gesunde Kinder und Jugendliche der Altersgruppe ist das Risiko an Covid-19 zu sterben derzeit rein statistisch gleich null.
Und trotzdem wird die Gefahr für Kinder und Jugendliche heiß diskutiert. Christian Drosten zum Beispiel sprach kürzlich davon, dass 4,5 Prozent der in einer Studie befragten erkrankten Kinder und Jugendlichen noch lange nach der Infektion mit Symptomen zu kämpfen hatten.
Er zitiert da wahrscheinlich aus einer englischen Studie. Gerade die haben unsere Pädiater und vor allen Dingen auch der extra hinzugebetene Experte, Professor Berner, genau analysiert. Professor Berner leitet die Studie zur Erfassung von COVID-19 in dieser Altersgruppe. Zusammenfassend kann man jedenfalls sagen, dass es zu Long Covid in dieser Altersgruppe einfach keine verlässlichen Daten gibt. Bei PIMS wissen wir da schon mehr.
Das ist die Multientzündungserkrankung, an der Kinder und Jugendliche Wochen nach der Infektion erkranken können.
Knapp 100 betroffene Kinder und Jugendliche in dieser Altersgruppe sind erfasst, zum Teil mussten sie im Krankenhaus und auch intensivmedizinisch behandelt werden. Aber die Kinderärzte, auf die man sich ja da verlassen muss, sagen, dass sie sich in den pädiatrischen Kliniken mittlerweile sehr gut mit diesem Krankheitsbild auskennen und damit gut umgehen können. In der Summe war das nicht ausschlaggebend für eine generelle Empfehlung.
Also gut, dann reden wir über den Punkt Sicherheit des Impfstoffs.
Da haben wir bisher nur eine kontrollierte Zulassungsstudie für die Altersgruppe und die hat 1.130 geimpfte Kinder etwa zwei Monate beobachtet. Da lässt sich schon mit Hilfe der Mathematik ableiten, dass die Studie keine Risiken abbilden kann, die seltener als 1:100 sind. Sie kann sie entsprechend auch nicht ausschließen. Diese seltenen Nebenwirkungen, wie wir sie von anderen Impfstoffen aber auch von den Covid-19-Impfungen kennen, sind aber in diesem Fall relevant. Denn wie gesagt: Wenn die Kinder und Jugendlichen ein sehr geringes Krankheitsrisiko haben, dann müssen wir auch verdammt sicher mit der Impfung sein.
In den USA und anderen Ländern wurde das anders bewertet, dort sind bereits Millionen Kinder und Jugendliche ab 12 geimpft.
Dazu sage ich gleich einmal eins: Die Aussage allein, “Aber es gibt doch schon Millionen geimpfte Kinder“, die nutzt überhaupt nichts, solange diese Impfungen nicht in Studien richtig ausgewertet wurden. Und wenn solche Daten vorliegen, dann ist auch die Stiko wie immer bereit, die Empfehlung anzupassen – wir sind ja für Impfungen, das dürfen Sie nicht vergessen.
Da könnte man der Stiko aber vorwerfen, Sie lasse den Impfstoff erstmal anderswo testen, bevor sie ihn für die hiesigen Kindern empfiehlt.
Und? Wo ist da der Vorwurf?
Dass man andere Länder als Versuchslabor nutzt.
Das sind sogenannte Real-Life-Studien. Es gibt keinen Grund, dass sich alle an diesen Feldversuchen beteiligen.
Aber wir profitieren davon, dass andere Länder das Risiko seltener Nebenwirkungen eingehen.
Nun ist aber die Situation in den USA bei den Kindern eine ganz andere, allein schon, wenn Sie die Häufigkeit des metabolischen Syndroms betrachten, also extrem fettleibige Kinder und Kinder mit schlecht eingestellter Diabetes. In unserem Gesundheitssystem gibt es das kaum. Solche Faktoren ändern natürlich die Risiko-Nutzen-Bewertung.
Laufen denn diese weiterführenden Studien bereits in den USA?
So wie ich die wissenschaftliche Welt der Vereinigten Staaten kenne, habe ich keine Zweifel, dass solche Studien dort laufen und es auch bald Ergebnisse geben wird. Und natürlich sind wir froh, wenn dabei herauskommt, dass die Impfung auch bei Kindern völlig harmlos ist. Aber ich darf Sie nochmal erinnern, dass schon ein Dutzend Fälle ernsthafter Nebenwirkungen bei Kindern die ganze Impfung in Frage stellt.
Die Vorsitzende des Ethikrats hat neulich gesagt, Ihr sei nicht bekannt, dass es in der Geschichte der Impfstoffe jemals späte Nebenwirkungen gegeben habe. Woher dann diese Forderung nach längerer Nachbeobachtung?
Gerade wenn man die Geschichte des Impfens betrachtet, kann man das nicht absolut ausschließen. Das ist selten, keine Frage, aber es gab die Narkolepsie-Fälle nach der Pandemrix-Impfung vor allem in den skandinavischen Ländern. Da können sich die meisten noch gut erinnern, die Betroffenen leiden bis heute darunter und das war auch erst Monate nach der Impfung aufgetreten. Schon in den 1970ern gab es in den Vereinigten Staaten einen Grippeimpfstoff, der Guillan-Barré-Fälle hervorgerufen hat, auch erst Monate nach der Impfung. Den Zusammenhang konnte man klar nachweisen, weil die Fälle plötzlich häufiger auftraten als in der Normalbevölkerung.
Nun sind aber die Eltern in einer denkbar schwierigen Situation. Weil es keine offizielle Empfehlung, aber eine Öffnung für alle Kinder und Jugendlichen ab 12 gibt, müssen sie ganz individuell entscheiden.
Damit haben wir doch aber die Situation, die gerade der Ethikrat immer gefordert hat: Dass man nämlich die individuelle Patientenentscheidung ermöglicht. Das steht sogar in dem gemeinsamen Papier von Ethikrat, Stiko und Leopoldina explizit so drin.
Normalerweise sind die Stiko-Empfehlungen bindend. Wie ist das in diesem Fall geregelt?
Die rechtliche Sicherheit ist nach Auskunft des Gesundheitsministeriums und auch nach Änderungen im Infektionsschutzgesetz gegeben. Das heißt, die Empfehlung der Stiko macht die Impfung für den Arzt und auch die Eltern in jedem Fall rechtssicher.
Das heißt, sie haften nicht für mögliche Folgen der Impfung?
Zumindest nicht materiell.
Und darin steckt eben eine Emotionalität, die mit anderen Impfentscheidungen nicht vergleichbar ist. Diese Pandemie ist so allgegenwärtig, läuft nicht unter dem Radar wie die Grippe oder andere Infektionserkrankungen. Und deshalb müssen Eltern nun eine bewusste Entscheidung fällen, während sie sich sonst – quasi automatisch – an die Empfehlungen der Stiko halten.
Ich verstehe, dass diese Entscheidung durch das ganze Drumherum emotional sehr aufgeladen ist. Aber die Grippe ist ein gutes Stichwort. Wir haben einen sehr genauen Vergleich mit vielen Grippe-Jahrgängen gemacht. Und es gab keinen Jahrgang, in dem die Grippe für diese Altersgruppe eine geringere Bedeutung hatte als Covid-19. Und die Grippeimpfung wird für diese Altersgruppe auch nicht allgemein empfohlen.
Im Unterschied zur Grippe befinden wir uns aber in einer Situation, in der die Kinder und Jugendlichen mit extremen Einschränkungen leben, um das Infektionsrisiko aller zu verringern. Insofern ist der Vergleich ja nicht ganz zu halten.
Da sag ich Ihnen gleich etwas dazu, aber erst noch etwas anderes: Wenn Sie fünf Millionen Impfstoffdosen für die Kinder beiseite gestellt hätten, wie das ursprünglich geplant war, dann hätten genau diese fünf Millionen Impfstoffdosen gefehlt für die Eltern dieser Kinder, die Impfung viel dringender brauchen. Allein das war nicht zu verstehen.
Das ist auch wichtig, aber ich wollte ja auf etwas anderes hinaus.
Aber das ist der gleiche Punkt, Sie werden es gleich sehen. Man zäumt hier nämlich immer das Pferd vom Schwanz auf. Wenn die Kinder aus gesundheitlichen Gründen die Impfung nicht brauchen, also Covid-19 kein gutes Argument ist, dann muss man auch die anderen Maßnahmen, die man im Umfeld der Kinder trifft, ähnlich evidenzbasiert überprüfen. Ob es stimmt, dass wir die Impfung brauchen, um die Schulen zu öffnen, wie das plakativ gesagt wurde, das hat doch niemand überprüft. Diesen Zusammenhang herzustellen zwischen dem normalen Leben der Kinder und der Impfung, das halte ich von vornherein für illegitim.
Der Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach sagt, dass aufgrund dieser Stiko-Empfehlung und ohne die breite Impfung der Kinder und Jugendlichen im Herbst eine Riesen-Infektionswelle bei den Kindern droht.
Ach wissen Sie, das ist das Leiden in dieser Zeit mit diesen ganzen Meinungsäußerungen. Politiker müssen halt offensichtlich so reden, aber man muss das wirklich sehr genau betrachten. Wenn das Krankheitsrisiko für die Kinder gering ist und es noch ungeimpfte Erwachsene gibt, dann müssen wir erst einmal die impfen, um weitere relevante Infektionswellen zu verhindern. Übrigens führen Infektion und Impfung zur Herdenimmunität. Dann brauchen wir auch dieses im Grunde schon seltsame Argument nicht, dass wir die Kinder impfen müssen, um die gefährdeteren Erwachsenen zu schützen.
Was genau muss passieren, damit die Stiko sagt: So, jetzt empfehlen wir den Impfstoff für alle Kinder?
Das können Sie im Grunde nachrechnen. Wir müssen größere Kollektive haben, die geimpft und vor allen Dingen entsprechend nachverfolgt sind. Nur so haben wir die Möglichkeit, seltene Nebenwirkungen in einer anderen Größenordnung auszuschließen, als das jetzt der Fall ist. Und wir brauchen mehr Studien zur Bedeutung der Krankheitsbilder, also auch zu Long-Covid, in den verschiedenen Altersgruppen. Das Gleiche kommt ja dann mit den kleineren Kindern auf uns zu. Und ich hoffe inständig, dass auch die Politik künftig erst einmal die Auswertung der Daten abwartet. Wozu habe ich sonst ein Gremium wie die Stiko, die sich ausschließlich mit der Schaffung von Evidenzen beschäftigt?! Dann macht es doch auch Sinn, erst einmal diese Evidenzen abzuwarten, bevor sich Politiker laut in der Öffentlichkeit positionieren.
Wir sind nicht nur in einer Pandemie, sondern auch im Wahljahr.
Sehen Sie, da habe ich es doch gut, dass ich Wissenschaftler bin und kein Politiker. Ich kann nicht verhindern, dass die Politik sich über mich oder über die Stiko ärgert. Aber ich mache mir nicht die Mühe, mich über die Politik zu ärgern. Ich mache einfach meine Arbeit.
Nur nicht mehr so im Stillen, wie in Vor-Pandemie-Zeiten. Bereuen Sie es in diesen Tagen manchmal, der Chef der Stiko zu sein?
Also das ist vielleicht noch weniger mein Problem als das meiner Frau, die sich unseren Ruhestand auch anders vorgestellt hat. Aber im Ernst: Ich habe schon im letzten Jahr böse Zuschriften bekommen, nach dem Motto, ich alter Mann sollte doch endlich mal diesen hochbezahlten Job aufgeben. Und dann denkt man natürlich: Ja, warum machst du das eigentlich noch im Ehrenamt? Sollen sich doch die anderen die Köpfe einschlagen. Für mich persönlich ist dieses ganze Auftreten in der Öffentlichkeit auch nicht reizvoll. Jetzt fragen sie mich gleich, warum ich den Job dann noch mache.
Natürlich.
Ich bin Wissenschaftler geworden, weil ich wissen wollte, wie die Dinge funktionieren, weil ich verstehen wollte. Das war immer die Antriebsfeder und die ist immer noch gespannt. Und eines muss man auch sagen: Für jemanden, der zum Beispiel als Institutsleiter noch voll im Job steht, wäre dieses Pensum gerade gar nicht zu schaffen.
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