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Israelischer Politiker über neue Koalition„Eine einzigartige Regierung“

In Israel will ein breites Parteienbündnis die Ära Netanjahu beenden. Mossi Raz von der linken Partei Meretz spricht über die Erfolgsaussichten – und ist optimistisch.

Jerusalem, 05. Juni 2021: Viele Israelis haben den Wunsch, die Ära Netanjahu zu beenden Foto: Sebastian Scheiner/ap/dpa
Judith Poppe
Interview von Judith Poppe

taz: Herr Raz, in Israel hat sich gerade eine ganz große Koalition gebildet, um die Ära des Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu zu beenden. Als Abgeordneter der linken Partei Meretz sind Sie mit dabei. Wie fühlt sich das an?

Mossi Raz: Ich freue mich natürlich. Weil dies das Ende der Netanjahu-Ära ist, weil es eine Kooperation zwischen jüdischen und palästinensischen Bür­ge­r*in­nen gibt, weil es so viele Frauen wie noch nie in Ministerämtern gibt, weil Freun­d*in­nen von mir Mi­nis­te­r*in­nen sein und wir die Politik entscheidend mitbestimmen werden.

Sie sind der vielleicht radikalste Friedensaktivist Ihrer Partei. Vor einem Jahr hätten Sie sich sicherlich nicht vorstellen können, unter Naftali Bennett, dem Anführer der Siedlerpartei Jamina, in einer Regierungskoalition zu sitzen.

taz am wochenende

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Ja, das stimmt. Und das ist die negative Seite dessen, was gerade passiert. Aber die positive Seite ist: Ich hätte mir genauso kaum vorstellen können, dass ein palästinensischer Israeli Minister sein würde …

Esawi Frej, der ebenfalls für Meretz ins Parlament eingezogen ist.

… und dass wir eine Koalitionsvereinbarung mit einer islamisch-arabischen Partei treffen würden. Das ist sensationell.

Auch die arabische Partei Ra’ am ist an dem Bündnis beteiligt. Die einen nennen es „Einheitsregierung“, andere „Regierung des Wandels“, Netanjahu spricht verächtlich von „Linksregierung“. Wie bezeichnen Sie die Koalition?

Ich würde sie „Regierung des Wandels“ nennen. Es ist eine andere, sogar einzigartige Regierung.

imago
Im Interview: Mosche „Mossi“ Raz

geboren 1965, ist Abgeordneter der Knesset für die linke Partei Meretz. Er war Generalsekretär der Friedensorganisation Frieden Jetzt (Shalom Achshav).

Was wird sich mit ihr ändern?

Israel ist sehr gespalten, es gibt Gruppen, die sich hassen. Ich denke, „Hass“ ist das Wort, das es am besten beschreibt. Und genau das wollen wir ändern. Ich hoffe, dass wir ein vereinteres Israel bilden können, in dem die Bür­ge­r*in­nen sehen können, wie die unterschiedlichen Parteien der Regierung zusammenarbeiten: Linke und Rechte, Religiöse und Säkulare, Männer und Frauen, arabische und jüdische Israelis. Ich denke, das zukünftige Kabinett ist ein Spiegel dieser Gesellschaft.

Vereint sind die Parteien allerdings vor allem in dem Wunsch, Netanjahu abzusägen. Warum ist das in Ihren Augen so wichtig?

Erstens: Nach 15 Jahren, die Netanjahu insgesamt Ministerpräsident war und weitere andere Posten in der Regierung innehatte, ist alles in diesem Land zu der Frage geworden: für oder gegen Bibi? Zweitens: Er hat Hetze und Spaltung zur Regierungspolitik gemacht. Und drittens ist er korrupt und derzeit schwer beschäftigt mit seinen rechtlichen Fragen.

Er steht gerade in drei Korruptionsfällen vor Gericht.

Und dieser Gerichtsprozess beeinflusst sämtliche Regierungsentscheidungen. Denn Netanjahu blickt nur darauf, was ihm vor Gericht noch helfen kann.

Die neue Koalition gegen ihn steht offenbar. Gibt es politische Schnittmengen all dieser Parteien jenseits der Intention, Netanjahu abzusägen?

Ja, gibt es. Korruption zu bekämpfen. Und Gesetze zu schaffen, um den Klimawandel zu bekämpfen.

Das ist nicht sehr viel.

Die Regierung wird nur Gesetze erlassen, denen alle Parteien zustimmen. Das steht so im Koalitionsvertrag. Das ist ein großer Unterschied zu den letzten zwölf Jahren. Es gibt Differenzen, natürlich. Manchmal werden wir nicht glücklich sein mit den Entscheidungen. Manchmal schon.

Werden Sie verhindern können, dass neue Siedlungen im von Israel besetzten Westjordanland gebaut werden, dass sogenannte Außenposten legalisiert werden?

Ich weiß es nicht. Die Hauptidee dieser Regierung ist, dass die Politik in dieser Hinsicht eingefroren wird und keine großen Entscheidungen bezüglich der Siedlungen getroffen werden. Das heißt: Es werden keine neuen Siedlungen gebaut, es werden aber auch keine Siedlungen geräumt.

Was sind die roten Linien, bei denen Sie aus der Regierung aussteigen würden?

Wenn etwas schlimmer wird als vorher. Wenn eine Entscheidung getroffen wird, die gegen unsere Ansichten ist und uns zurückwirft.

Am Donnerstagmorgen hat Nitzan Horowitz, der Meretz-Vorsitzende, gesagt, dass in der Koalitionsvereinbarung zwischen Lapids Zukunftspartei und Meretz eine Besserstellung der LGBTQ-Rechte ausgemacht ist. Doch Mansour Abbas, der Anführer der islamisch-konservativen Partei Ra’am, hat gelobt, sich einer solchen Gesetzgebung entgegenzustellen.

Das ist das Gegenteil von einer roten Linie für uns. Wir können das versuchen, aber wenn wir scheitern, ist das keine rote Linie.

Ist das Regierungskonzept, einzig den Status quo zu bewahren, nicht frustrierend?

Ich bin schon so lange Aktivist. Wir werden unser Leben lang frustriert. Was ist die Alternative? Bisher sieht es so aus, als würden einige unserer Ideen umgesetzt und andere nicht. Die Regierung wird nicht alle Probleme des Staates lösen können, aber wir werden keine Regierung haben, die das Problem vergrößert.

Hand aufs Herz: Glauben Sie, dass diese Regierung vier Jahre lang überleben wird?

Ja, warum nicht?

Was wäre zum Beispiel im Fall eines Krieges zwischen Israel und Gaza? Kann die Beteiligung der Partei Ra’am da halten?

Ich verstehe nicht, warum alle Leute diese Frage stellen. Wo ist der Zusammenhang? Es ist so leicht in Israel, Krieg zu führen. Es braucht lediglich die Entscheidung zweier Menschen: Die des Ministerpräsidenten und die des Verteidigungsministers. Es braucht nicht die Regierung dafür.

Und trotzdem, wäre ich Ra’am-Vorsitzender Mansour Abbas, dann würde ich mir im Falle eines Krieges sehr gut überlegen, ob ich gemeinsam mit den zwei Menschen, die einen Krieg gegen Gaza entschieden haben, in einer Regierung sitzen kann.

Okay, es wird die Stabilität der Regierung beeinträchtigen. Aber ich glaube nicht, dass Ra’am deswegen aus der Regierung aussteigen würde. Damit Netanjahus Likud wieder die Regierung stellt? Und außerdem: Wir sollten lieber verhindern, dass es überhaupt zu einem Krieg kommt.

Israel am Wendepunkt

Acht Parteien wollen Israel in Zukunft regieren, darunter linke Kräfte, eine konservativ-islamische Liste und die national-religiöse Jamina. Bevor die MinisterInnen vereidigt werden, müssen allerdings mindestens 61 der insgesamt 120 Knesset-Mitglieder der Regierung das Vertrauen aussprechen. Das könnte knapp werden. Im rechten Lager des Bündnisses regte sich bereits Widerstand.

Geht alles gut, muss der noch amtierende Ministerpräsident Benjamin Netanjahu Platz machen für Naftali Bennett. Der frühere Chef der Siedlerpartei soll für die ersten zwei Jahre der Regierungsperiode das Amt des Ministerpräsidenten ausüben, bevor ihn der moderatere Jair Lapid entsprechend der Rotationsregelung ablöst.

Netanjahu wird in den kommenden Tagen alles daran setzen, die Koalition am Knesset-Votum scheitern zu lassen. Ihm droht wegen Korruption eine Gefängnisstrafe. Lapid drängt auf eine schnelle Entscheidung.

Eine Parteikollegin von Ihnen hat während der Koalitionsverhandlungen Drohungen erhalten, die auch ihre Familie betreffen. Sie auch?

Ja, ich habe auch Morddrohungen erhalten. Aber das geht so, seitdem ich Friedensaktivist bin. Wir gewöhnen uns daran. Doch wir sollten wachsam sein, auch angesichts dessen, was Emil Grünzweig und Jitzchak Rabin geschah.

Emil Grünzweig war ein Friedensaktivist, der bei einer Friedenskundgebung 1983 mit einer Granate ermordet wurde. Und Jitzchak Rabin wurde 1995 als Ministerpräsident, der die Oslo-Friedensverhandlungen vorangetrieben hatte, von einem ultrarechten jüdischen Extremisten erschossen.

Es erhalten aber auch nicht nur wir von Meretz oder von den linken Parteien Morddrohungen, sondern auch der künftige Ministerpräsident Naftali Bennett und andere Abgeordnete seiner Partei Jamina.

Noch ist die Regierung nicht eingeschworen. Sollte einer der Abgeordneten noch abspringen, würde die Koalition nicht zustande kommen. Netanjahu würde an der Macht bleiben. Ein Abgeordneter von Jamina hat bereits Zweifel angemeldet.

Was soll ich sagen? Ich hoffe, wir werden es schaffen.

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