Buch über sexuelle Minderheiten: Am Faden des Anderen
Mark Gevisser hat ein wichtiges Buch über die weltweiten Kämpfe um sexuelle Selbstbestimmung geschrieben. Es ist klug und berührend zugleich.
In den Augen vieler ist der Streit um Unisextoiletten, etwa in den USA, einer, den „skurrile Minderheiten“ angezettelt haben, um von den echten, den relevanten Kämpfen abzulenken, wie auch Sahra Wagenknecht jüngst generell zu identitätspolitischen Kämpfen bemerkte.
Mark Gevisser: „Die pinke Linie“. Aus dem Englischen von H. Dierlamm und H. Schlatterer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021, 655 Seiten, 28 Euro
Überhaupt gilt klassischen Linken ganz besonders der Aufbruch von sexuellen Minderheiten als kurios und als viel weniger gewichtig als Klassenkämpferisches. Der immer etwas abschätzige Ton solcher Befunde ist nicht Gegenstand von Mark Gevissers nun auf Deutsch erschienenem Buch „Die pinke Linie“, es ist vielmehr das sachliche Dementi der vermeintlichen Wichtigkeit sexualemanzipatorischer Aufbrüche.
Die pinke Linie ist der Leitfaden der Untersuchung des südafrikanischen Journalisten und Schriftstellers: Er hat sich, wie er selbst sagt, durchaus privilegiert als weißer Mann auf die Recherche der Lage von Menschen begeben, die nicht den Bildern und Praxen vom sittlichen und moralischen Genügen in ihren Ländern entsprechen.
LGBTI und Pink Line
Ob es eine Transfrau in Malawi ist, zwei Frauen eines lesbischen Paares in Moskau oder ein schwuler Mann in Nairobi – sie alle eint nicht der Zank um queeristische Buchstabenreihungen wie etwa in der Chiffrenkette von „LGBTI*etc.“, nicht der Konflikt um die Sinnhaftigkeit etwa einer politisch angeblich relevanten Identität namens „Asexuell“. Vielmehr haben sie eben gemeinsam, nicht dem Schema „Mann und Frau und Kinder und also Familie“ zu entsprechen, sondern etwas anderem. Was das genau ist, bewegt sich auf und an der „Pink Line“, am Faden des Anderen.
Gevisser ist für sein Buch wirklich um die Welt gereist, war auch in Deutschland, beschreibt also akkurat die Geschichte des deutschen Aufbruchs ins, wie man heute sagen würde, „queere“ Universum. Er analysiert Aktuelles wie Historisches, und er sprach mit Menschen, die ihm berichteten, wie sie die Welt sehen als „Queers“, wie sie sich ihr Leben vorstellen und ihre Zukunft – und ob sie eine solche überhaupt im Sinne eines guten Lebens für möglich halten.
Menschen wie sie gab es schon immer, globalisierte Zeiten und die Digitalisierung der Kommunikationsformen machen es möglich, aber nun sind sie sichtbar und ringen um ihre Sagbarkeit. Der Autor in der Rolle auch des Chronisten: Er hat mit großer Lakonie, frei von Pathos – das angebracht wäre – Menschen jenseits des heteronormativen Mainstreams zum Sprechen gebracht. Einer seiner Interviewten, Michael Bashaija aus Nairobi, Kenia, zitiert er mit dem Satz: „Ich sage dir, Mark, meine Probleme begannen mit der Liebe.“
Ins für Heterosexuelle Verständliche übersetzt bedeutet diese kleine Sentenz: Der Mann von der Ostküste Afrikas hätte ebenso gut ein Leben als mit einer Frau liierter Mann führen können, mit Kindern, und entsprechend versucht, eine gute Figur abzugeben. Dass er in kulturell-politischen Verhältnissen lebt, die ihm – mit der Liebe, dem Begehren, dem Sehnen – ein anderes Leben nachgerade aufdrängen, spricht für ihn. Und sagt uns: In Kenia geht es auch nicht anders zu als bei uns.
Vorsichtige Aufbrüche
Diese Nahbarkeit der Schicksale und ihre Lebenswege formuliert zu haben ist das stärkste Verdienst Gevissers. Global orientierte Geschichten zur Emanzipation von Schwulen, Lesben, Transmenschen und sonst wie sexuell Anderen, zu ihren zarten, manchmal beängstigend vorsichtigen Aufbrüchen in eine ihnen ja nie freundlich gesinnte Welt, ist auch schon von anderen probiert worden, u. a. sehr lesbar von Dennis Altman über „Queer Wars“.
Gevisser hingegen bringt die queere Welt in unser Verständnis, berichtet von den Verletzlichkeiten der Protagonist*innen dieser Kämpfe und von ihrer Zähigkeit auch, einfach, allen Widrigkeiten zum Trotz, weiterzumachen, nötigenfalls nach einer Flucht aus lebensbedrohlichen Verhältnissen in einem anderen Land.
Eine Leerstelle, ein großer blinder Fleck auf der Landkarte der Reisen des Autors ist die arabische und iranische Welt, vor allem Letztere. Das ist die Gegend, in der schwule Männer, die man bei ihren, so das Verständnis ihrer Verfolger*innen, Freveln erwischte, von Hochhäusern stürzt – mit Allahs Einverständnis, wie man dort glaubt.
Gevisser ist klug genug, das globale Geschehen um Queere nicht für ein wohlfeiles Identitätsgewusel zu halten – er weist vielmehr darauf hin, dass alle Emanzipationsmühen letztlich in rechtliche Bestimmungen münden müssen. Solche des Schutzes, und inzwischen in den westlich-liberalen Ländern auch im Abräumen vormoderner Ehebestimmungen – „Queers“, also Schwule und Lesben, können (und wollen meist auch) Familie ebenso.
Die Emanzipationen der Menschen, die an der pinken Linie festhalten, sind immer an das Wachsen von ökonomischen Revolutionen gebunden, an die Chance, die Heimaten zu verlassen, die bis dahin provinziellen Horizonte zu überwinden – und in den Metropolen nach Glück zu suchen. Es ist das schönste und intensivste Buch, das es, Corona und seine Abstandsgebote hin oder her, zur nahen CSD-Saison zu lesen gibt.
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