piwik no script img

Warnstreik der Müllabfuhr

BIOSPHÄRE Wälder, Wiesen und Felder der EU binden nicht nur weniger Treibhausgase als angenommen, sie setzen sogar Klimakiller frei. Auch die Ozeane nehmen deutlich weniger CO2 auf

UN-Klimagipfel

■  Mehr als 90 Staats- und Regierungschefs kommen heute auf Einladung von UN-Chef Ban Ki Moon in New York zur einem Klimagipfel zusammen – als Vorbereitung der Weltklimakonferenz, die im Dezember in Kopenhagen stattfinden wird. Dort will man endgültig zu einer Übereinkunft über konkrete Ziele zur Minderung der Treibhausgase gelangen. Bei dem heutigen Treffen werden Ban Ki Moon, der dänische Ministerpräsident Lars Lokke Rasmussen und die kenianische Friedensnobelpreisträgerin Wangari Mathaai sprechen. Auch US-Präsident Barack Obama und der japanische Ministerpräsident Yukio Hatoyama werden erwartet.

VON BERNHARD PÖTTER

Der Rhein bei Köln war nur noch ein Flüsschen; Roth bei Nürnberg brütete mit 40,4 Grad Celsius einen neuen deutschen Hitzerekord aus; die Weizenernte in Frankreich ging um 20 Prozent zurück, und in ganz Europa starben 35.000 Menschen an der heftigsten europäischen Hitzewelle seit 500 Jahren. Das war im Sommer 2003. Fast unbemerkt wurde damals ein weiteres Schreckensszenario Realität: Zum ersten Mal seit Beginn des 20. Jahrhunderts entließen die Pflanzen in Europa mehr Kohlendioxid in die Luft, als sie speicherten.

„Der europäische Kontinent, der während der Vegetationsperiode normalerweise Kohlenstoff speichert, wurde im Juli und August 2003 zu einer Quelle von CO2“, heißt es im Endbericht der ersten umfassenden Kohlenstoff-Inventur von Europas Biosphäre, „CarboEurope“. Die Pflanzen pumpten unter Hitzestress im Sommer 2003 so viel Treibhausgas in die Atmosphäre, wie normalerweise die europäischen Wälder in fünf Jahren einlagern. In fünfzig Jahren könnte diese Ausnahme zur Regel werden, warnen die Experten: Bei häufigeren Hitzewellen, wie sie die meisten Klimamodelle vorhersagen, „könnten sich die europäischen Bodenökosysteme aus Kohlenstofflagerstätten zu Kohlenstoffquellen verwandeln und damit die weitere Anhäufung von CO2 in der Atmosphäre beschleunigen“. Es begänne ein Teufelskreis, den die Wissenschaft vornehm „positive Rückkopplung“ nennt.

„CarboEurope“ schließt eine Lücke in einer der zentralen Fragen der Klimaforschung: Wo genau bleibt eigentlich das CO2, das der Mensch in die Atmosphäre entlässt? Seit 2004 haben hunderte von Wissenschaftlern aus 62 Forschungsinstituten in ganz Europa registriert, wie viel Kohlenstoff in Pflanzen und in Böden gebunden ist und wie viel freigesetzt wird. Dieser „Kohlenstoffkreislauf“ ist bisher so wenig verstanden, dass im aktuellen vierten Bericht des UN-Klimarats IPCC ausdrücklich seine „Unsicherheiten“ erwähnt werden und etwa Deutschland wegen der mangelnden Datenlage darauf verzichtet, die Kohlenstoffspeicherwirkung seiner Böden im Kioto-Protokoll anzumelden.

Methan aus Rindermägen

Die Ergebnisse der Forscher sind ernüchternd: Anders als beim Start von „CarboEurope“ angenommen, binden die Wälder, Wiesen und Felder der EU unter dem Strich keine Treibhausgase – „sondern setzen sogar Klimakiller frei“. Europas Kohlenstoffmüllabfuhr befindet sich im Warnstreik. Und verantwortlich dafür ist die widersprüchliche Politik der Europäischen Union: Einerseits wollen die Europäer weltweit beim Klimaschutz vorangehen. Sie haben sich verpflichtet, bis 2020 ihre fossilen Brennstoffemissionen gegenüber 1990 um 20 Prozent zu verringern, und wollen sich dabei ihre „Senken“ (CO2-Lagerstätten in Pflanzen) anrechnen. Doch die gleiche EU trägt nach den Ergebnissen der Studie die Verantwortung für die Erschöpfung eben dieser Senken – mit einem ihrer anderen Steckenpferde: Der Agrarpolitik, die uneingeschränkt klimawirksame Gase in großer Menge freisetzt.

Denn die industrialisierte Landwirtschaft verhagelt der EU die Klimabilanz. Intensive Viehhaltung und Düngung entlassen so viel der extrem wirksamen Treibhausgase Methan und Stickstoff in die Luft, dass die Grünflächen der EU als Senken praktisch neutralisiert werden. Die europäische Biosphäre speichert nur dort in größerem Maßstab CO2, wo die gemeinsame Agrarpolitik der EU nicht hinreicht: in den Wäldern Osteuropas.

Dabei ist das Potenzial der europäischen Natur als Zwischenlager für Kohlendioxid eigentlich gewaltig: Etwa eine Milliarde Tonnen CO2 binden die Pflanzen zwischen Atlantik und Ural jedes Jahr in ihren Stämmen und Wurzeln“ – circa ein Fünftel dessen, was in Europa an Emissionen aus der Verbrennung von Kohle, Gas und Öl in die Luft geblasen wird. Doch statt die europäische Klimaschuld um diesen Anteil zu senken, zeigt sich nun: „Etwa 90 Prozent der Emissionen aus der Verbrennung von fossilen Brennstoffen in der EU 25 bleiben in der Atmosphäre und tragen zur Erwärmung der Atmosphäre bei.“ Das Ergebnis ist für den Koordinator des Projekts, Ernst-Detlef Schulze vom Max-Planck-Institut für Biogeochemie in Jena, eine böse Überraschung: „Vor zehn Jahren pufferten die Wälder und Wiesen noch etwa 30 Prozent unserer Treibhausgasemissionen. Heute sind es nur noch 13 Prozent.“ Und auch die werden durch die klimaschädlichen Emissionen von Methan aus Kuhmägen und Stickstoff aus Düngemitteln praktisch neutralisiert.

Die industrialisierte Landwirtschaft verhagelt der Europäischen Union die Klimabilanz Die europäische Biosphäre speichert nur dort in größerem Maßstab Kohlendioxid, wo die gemeinsame Agrarpolitik der EU nicht hinreicht: in den Wäldern Osteuropas

Die europäischen Ergebnisse bestätigen einen globalen Trend: Weltweit nimmt die Aufnahmekapazität der „Kohlenstoffsenken“ dramatisch ab. Die Zwischenlager für den Verbrennungsabfall aus fossilen Brennstoffen schränken wegen Überfüllung ihre Arbeit immer weiter ein. In einer extremen Trockenperiode gab 2005 erstmals auch der Regenwald am Amazonas mehr Kohlenstoff an die Atmosphäre ab, als er in der Biomasse speichern konnte, hat das internationale Forschungsprojekt „Rainfor“ herausgefunden. Die weitläufigen Wälder Kanadas haben sich in den vergangenen zehn Jahren von einem CO2-Speicher zu einer CO2-Quelle entwickelt, weshalb sie die Regierung in Ottawa aus ihrer Treibhausgasbilanz ausklammert. Und das britische Hadley Center for Climate Change sagt voraus, dass ab 2070 weltweit die Böden in der Summe keinen Kohlenstoff mehr speichern werden, sondern massiv Kohlendioxid freisetzen.

Die Meere schwächeln

Wenn die Wälder und Wiesen als Lagerstätte für das Kohlendioxid ausfallen, bleiben neben der Atmosphäre noch die Ozeane. Immerhin haben bisher die Pflanzen 30 Prozent des menschengemachten CO2 geschluckt und die Ozeane weitere 25 Prozent. Doch aus dem Meer kommt keine Hilfe, wie das Schwesterprojekt „CarboOcean“ zeigt – ganz im Gegenteil. Denn auch hier ist die Aufnahmefähigkeit für Kohlendioxid massiv zurückgegangen: „Der Nordatlantik hat in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts 50 Prozent weniger CO2 aufgenommen als Mitte der Neunzigerjahre“, schreiben die Autoren in ihrem vorläufigen Bericht. Auch wenn es im Nordatlantik inzwischen eine leichte Erholung gibt, schwächelt vor allem der südliche Ozean: Dort ging die CO2-Aufnahme seit 1980 um 30 Prozent zurück, „ein Trend, der sicherlich auf stärkere Winde zurückgeht, die der Klimawandel mit sich bringt“. Auch hier bestätigt sich offenbar ein weltweiter Trend. Anfang 2009 stellte ein russisch-koreanisches Forscherteam fest, dass die CO2-Aufnahme des Ozeans im Japanischen Meer überraschend deutlich zurückgegangen ist.

Trotz abnehmender Arbeitsleistung von Wäldern und Ozeanen zollen die Forscher der natürlichen Müllabfuhr großen Respekt: Es sei „beeindruckend, dass die natürlichen Senken 1960 in der Lage waren, etwa die Hälfte der menschengemachten CO2-Emissionen zu absorbieren, als sie etwa bei 2 Milliarden Tonnen lagen – und dass sie es ganz ähnlich heute immer noch tun, wo unsere Emissionen bei 10 Milliarden Tonnen liegen.“ Doch das Ende der Fahnenstange ist in Sicht: Verbesserte Klimamodelle für die Ozeane zeigten einen beschleunigten Klimawandel, wenn die Meere immer weniger CO2 einlagern. Und auch auf der Terra firma sind die Aussichten düster, schreiben die Forscher an die Adresse der EU: „Wenn wir unsere Böden nicht richtig bearbeiten, könnte etwa tausendmal so viel Kohlenstoff aus ihnen freigesetzt werden wie momentan durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe.“

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen