Buch über Suizide bei Architekten: Scheitern aus vollem Herzen
Charlotte Van den Broeck erzählt in „Wagnisse“ das Leben von 13 Architekten, die mutmaßlich Suizid begingen. Und verknüpft das mit ihrer eigenen Geschichte.
Harry Crandall’s Knickerbocker Theater, ein Lichtspielhaus aus der frühen Boomzeit des Kinos, war bei seinem Einsturz gerade fünf Jahre alt. Ein Blizzard hatte seit der Nacht zum 28. Januar 1922 über Washington, D. C., gewütet, die US-amerikanische Hauptstadt war dick verschneit. So dick, dass am Abend das Dach des Kinos zusammenbrach und mehrere Hundert Besucher unter sich begrub.
Charlotte Van den Broeck: „Wagnisse. 13 tragische Bauwerke und ihre Schöpfer“. Aus dem Flämischen von Christiane Burkhardt. Rowohlt, Hamburg 2021, 348 Seiten, 26 Euro
98 Menschen starben, 133 wurden schwer verletzt. Architekt Reginald Geare, der in einem anschließenden Prozess für schuldig befunden wurde, hatte sich unter dem Zeitdruck seines Bauherrn bei der Konstruktion des Dachs verrechnet – beziehungsweise nicht mit solchen Schneemassen gerechnet. Fünf Jahre später drehte er in seinem Arbeitszimmer den Gashahn auf und erstickte.
Dass Reginald Geare das Unglück und die darauffolgende Krise – er bekam als Architekt keine Aufträge mehr – nicht verwinden konnte, ist nachvollziehbar. Warum aber stürzte sich Jean Porc 1611 vom Dachstuhl der von ihm erbauten Kirche Saint-Omer – etwa wegen ihres verdrehten und obendrein leicht gekrümmten Kirchturms?
Warum erhängte sich Eduard van der Nüll, gemeinsam mit August Sicard von Sicardsburg während der Bauzeit angefeindeter Architekt der Wiener Staatsoper, ein Jahr vor deren gefeierter Eröffnung 1869, und warum starb Partner Sicard nur zehn Wochen später? Wieso wählte Stefano Ittar, Spross eines in die Ukraine verbannten Italieners, den Freitod, sechs Jahre vor der Vollendung seines Meisterstücks, der makellosen maltesischen Nationalbibliothek von Valletta?
Weder Fiktion noch Sachbuch
Charlotte Van den Broecks erster Prosaband „Wagnisse“ ist weder Fiktion noch Sachbuch, sondern ein in seinen großen Linien aufregender, im Detail überaus anregender Essay über Kunst und Scheitern, der sich aus einer Unzahl von Perspektiven betrachten lässt.
Die 1991 geborene Schriftstellerin aus der belgischen Kleinstadt Turnhout, bisher vor allem als Lyrikerin erfolgreich, philosophiert nicht im luftleeren Raum, sondern folgt einer konzeptionellen Verengung des Themas: Sie reist zu den Bauwerken von 13 Architekten, die mutmaßlich Suizid begangen haben, rekonstruiert deren Leben, Werk und Todesmotiv.
Und sie lässt sich bei dieser Arbeit stets über die Schulter schauen, schildert Begegnungen mit Expert*innen, folgt assoziativen Nebenwegen und reflektiert ihr Selbstverständnis als Künstlerin: Indem sie über sich, ihre eigenen Beziehungs- und Arbeitskrisen schreibt, spiegelt sie ihr eigenes Leben in den Baumeistern. Eine gewagte, mehrdimensionale, womöglich überladene Konstruktion. Ist sie, womöglich absichtlich, vom Scheitern bedroht?
Schon das erste Kapitel über das in den nuller Jahren erbaute Städtische Schwimmbad Stadspark in Turnhout überrascht mit kühnen Schnitten: Es beginnt mit einem minutiös geschilderten Unfall. Der Pferdeschwanz eines Teenagers wird in die Filteranlage am Beckenrand gesaugt, mit etwas Pech hätte das Mädchen ertrinken können.
Eigene Erinnerungen, fremde Biografien und Schauplätze
Überhaupt ist die sechsjährige Geschichte des Gebäudes eine einzige Kette von Desastern, die letztlich alle darauf zurückgehen, dass das Bad auf schlammigem Grund errichtet wurde. Der anonym gebliebene Architekt, heißt es in den Kneipen von Turnhout, habe sich im Heizungskeller umgebracht.
Doch Charlotte Van den Broeck schweift ab in eigene Erinnerungen an erwachende Sexualität und Knutschen am Beckenrand, an den mitempfundenen Schmerz, als ihr kleiner Bruder ein butterkeksgroßes Hautstück auf der Wasserrutsche verliert, an einen Todesfall in der Cafeteria.
Assoziiert Poolgemälde von David Hockney, vielleicht nur, um von einer Ausstellung im Centre Pompidou zu erzählen, in dem sie auch seine Videoinstallation „Four Seasons“ sieht und bei „Woldgate Woods, Winter“ ein ästhetisches Schlüsselerlebnis hat. Wesentliche Leitmotive sind da schon in aller Beiläufigkeit und Dichte ausgelegt: die Angst, zu ertrinken, Tod und Eros, Weiß als Symbol für Auslöschung.
Das Prinzip der Parallelführung von eigener Geschichte, fremden Biografien und Schauplätzen variiert Charlotte Van den Broeck in den folgenden Kapiteln immer wieder neu. Im Vordergrund stehen die Rekonstruktionen von Baugeschichten sowie den mutmaßlichen (und oft auch belegbaren) Charakterzügen ihrer Schöpfer.
Gegenwart als skurril-komischer Kontrast zur Geschichte
Sei es die römische Barockkirche San Carlo alle Quattro Fontane, die der jähzornige Perfektionist Francesco Borromini in Konkurrenz zu seinem Leib- und Magenfeind Gian Lorenzo Bernini in voluptuöser Pracht entwirft – sei es das exzentrische Postamt von Ostende, um dessen Finanzierung sich 300 Jahre später der sture Gaston Eysselinck mit dem Stadtrat streitet. Das Leben nimmt er sich aber aus ganz anderen Gründen, kurz nach dem Krebstod seiner Gefährtin Georgette.
Oft dient die Gegenwart der Autorin als skurril-komischer Kontrast zu den tragischen Geschicken, etwa, wenn sie sich mit der Vorsitzenden der Association des clochers tors d’europe (Europäische Gesellschaft verdrehter Kirchtürme) trifft oder in Ostende von gleich drei Männern namens Koen beraten lässt.
Mancherorts gibt es überhaupt nichts zu sehen, wie am Zaun des Golfclubs Pine Valley in den fast unmöglich zu bepflanzenden Sandböden New Jerseys, zu dem Frauen keinen Zutritt haben, oder in Washington, wo längst eine schnöde Bankfiliale das Knickerbocker Theater ersetzt.
Auch formal sucht Van den Broeck den Belastungswechsel. Dass Karl Pihal vergaß, in der von ihm konzipierten Rossauer Kaserne am Wiener Donaukanal die Toiletten einzuplanen, berichtet sie ihrem Freund Walter (Wouter) in einem intimen Brief, an dem vor allem irritiert, dass jegliche Intimität fehlt.
Perfektionistischer Selbstanspruch und Hochmut
Die nächste Reise, erfährt man im folgenden Kapitel, wollten die beiden eigentlich gemeinsam machen. Doch dann stapft die Dichterin mutterseelenallein über das sommerheiße Fort George im schottischen Ardersier: „Die Reise, die unsere Beziehung retten sollte, hatte ich als trojanisches Pferd benutzt, um noch einen tragischen Architekten in unser Leben zu schmuggeln. Walter war so mutig, auf der Stelle abzusagen.“
Immer wieder stellt sie ihr Schreiben in Frage („Beides geht nicht, schreiben und ein richtiges Leben führen, etwas davon muss hinten runterfallen“), kämpft mit perfektionistischem Selbstanspruch und dessen Umschlag in Hochmut: „Die Architekten riskieren wenigstens große Gesten, Wagnisse, Arbeiten in riesigem Maßstab, in aller Öffentlichkeit: konkrete Masse und Oberfläche, die eine Reaktion erzwingen und jede Unbeteiligtheit verwehren.“
Und doch spielt Van den Broeck die private Karte nie auf Kosten des Porträtierten aus. Es sind ihre Augen, durch die wir schauen, es ist unsere Gegenwart, in der sich die Vergangenheit spiegelt, doch erstaunlicherweise hält der Arbeitsprozess einer Lyrikerin im 21. Jahrhundert den fehlbaren Geniekünstlern der Vergangenheit beharrlich stand.
Überhaupt balanciert sie die Abwesenheit von Architektinnen aus, die auch Karen beklagt, ihre Führerin durch die Kelvingrove Art Gallery and Museum in Glasgow. Hier nutzt Van den Broeck die Gelegenheit, um anhand der Ehefrauen der „Glasgow Boys“, den Jugendstilkünstlerinnen Margaret und Frances MacDonald, diese Einseitigkeit zu reflektieren. Sad Fact: Auch Frances MacDonald beging Selbstmord, ihr eifersüchtiger Gatte vernichtete einen Großteil ihres Werks.
„Wagnisse“ im alten Europa
Während sich drei Viertel der „Wagnisse“ im alten Europa vollziehen, bricht das letzte in die neue Welt auf. Hier scheint der Dichterin erstmals ein wenig die Luft auszugehen, die Begeisterung in Ernüchterung umzuschlagen.
Ein elitärer Golfplatz, ein kommerzielles Kino, der private Skulpturenpark des Outsider Artist Starr Gideon Kempf in Colorado Springs – das sind die letzten Stationen, die Van den Broeck aufsucht und zum Anlass nimmt, den hier streng individualistisch gedachten Gedanken vom Scheitern als Chance, vom totalen Neuanfang als Nationalcharakter buchstäblich ad absurdum und an ein abruptes Ende zu führen.
Bei einer Führung von Kemps Enkel Josh in den Keller des großväterlichen Hauses imaginiert Charlotte Van den Broeck eine Flut, die alles Gerät und sie selbst hinaus auf die Straße spült. Hier schließt sich der Kreis, krumm und wacklig: Es ist, ganz klar, ein Scheitern aus vollem Herzen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!