Alle Blicke gehen jetzt zu 12 Geschworenen

Nach den Schlussplädoyers im Prozess gegen Ex-Polizist Derek Chauvin kann jetzt jederzeit ein Urteil fallen. Ein Freispruch könnte neue Proteste auslösen

„Dies war kein Polizeieinsatz. Dies war Mord“.

Staatsanwalt Steve Schleicher

Von Dorothea Hahn, New York

„Gerechtigkeit für George Floyd“ skandieren Hunderte von AktivistInnen im Zentrum von Minneapolis im US-Bundesstaat Minnesota am späten Montagnachmittag. Auf ihren Transparenten ist zu lesen: „Schafft die Polizei ab“, dazu gibt es auch Bilder anderer schwarzer Polizeiopfer. Die Demonstration setzt sich in Bewegung, als die zwölf Geschworenen aus dem Gerichtssaal in einen abgesonderten und streng überwachten Raum in einem Hotel gebracht werden.

Diese zwölf, von denen wenig mehr als Geschlecht, Hautfarbe und ungefähres Alter bekannt ist, werden über die Zukunft des Ex-Polizisten Derek Chauvin entscheiden. Am 25. Mai letzten Jahres hat er neun Minuten und 29 Sekunden lang auf dem Nacken des gefesselten und bäuchlings am Straßenrand liegenden George Floyd gekniet.

Der weiße Chauvin drückte den schwarzen Floyd auch dann noch mehrere Minuten lang weiter auf den Asphalt, als der nicht mehr um sein Leben flehte, nicht mehr atmete und keinen Puls mehr hatte. Die Geschworenen müssen einstimmig entscheiden. Wenn einE einzigEr von ihnen den Ex-Polizisten für unschuldig hält, bleibt der ein freier Mann.

Chauvin legt seine Maske ab, als sein Verteidiger am Montag sein mehr als dreistündiges Abschlussplädoyer hält. Der Angeklagte hatte sich geweigert, selbst auszusagen. Er verbrachte seinen Prozess, in dem er wegen Mord und Totschlag angeklagt ist, mit Schweigen und mit Notizen in einem gelben Din-A-4 Block.

Während des Abschlussplädoyers, in dem sein Verteidiger ihn „unschuldig“ nennt, sitzt er aufrecht und ohne zu schreiben und wirft herausfordernde Blicke in den Raum. Die Blicke erinnern an einen Moment am Tatort, als Chauvin als Reaktion auf PassantInnen, die ihn zu Mäßigung aufforderten, sein Knie heftiger in Floyds Nacken drückte und nach einer chemischen Keule griff.

Verteidiger Eric Nelson listet alle möglichen Gründe auf, die zu dem Tod des 46-jährigen Floyd unter dem Polizistenknie geführt haben könnten. Darunter Bluthochdruck, Drogenkonsum, verengte Blutgefäße, ein Geschwür, von dem nicht einmal Floyd selbst vor seinem Tod etwas geahnt hat, ein vergrößertes Herz und Auspuffgase aus einem Polizeiwagen, der in der Nähe des am Boden liegenden Mannes geparkt war.

Bloß das brutale Vorgehen seines Mandanten war in den Worten des Verteidigers „vernünftig“. Zur Rechtfertigung listet der Anwalt auf, der schwarze Mann am Boden sei groß und kräftig und potenziell „high“ gewesen. Die anderen Polizisten am Tatort, von denen zwei ebenfalls auf dem Rücken des gefesselten Floyd hockten, seien Berufsanfänger gewesen, auf die Chauvin sich nicht habe verlassen können. Und der Stadtteil, in dem es geschah, habe eine hohe Kriminalität.

„Verlassen Sie sich auf Ihren gesunden Menschenverstand“, appelliert hingegen der Staatsanwalt an die Geschworenen: „Dies war kein Polizeieinsatz. Dies war Mord“. Staatsanwalt Steve Schleicher nennt den Angeklagten in allen Punkten schuldig. Sein Kollege Jerry Blackwell endet sein Plädoyer mit den Worten: „George Floyd ist nicht tot, weil sein Herz zu groß war. Sondern weil das Herz von Derek Chauvin zu klein war“.

Die zwölf Geschworenen werden so lange abgesondert in einem Hotel bleiben, bis sie ihr Urteil gefällt haben. Damit sie nicht beeinflusst werden, sollen sie kein Fernsehen schauen und sich auch von anderen Nachrichtenquellen fern halten.

Aber ihre Entscheidung findet nicht in einem Vakuum statt. BürgerrechtlerInnen bereiten bereits Proteste für den Fall vor, dass Chauvin freigesprochen wird. PolitikerInnen, wie die demokratische Kongressabgeordnete Maxine Waters, kündigen an, dass es im Fall eines Freispruchs „konfrontativer“ zugehen wird. Und die Polizei bereitet sich vielerorts auf neue Auseinandersetzungen vor.