: Bahn lässt die Zugbrücken runter
Na, wenn das mal klappt: In einer spektakulären Aktion will die Bahn am Hauptbahnhof vier 1.250 Tonnen schwere Brückenbauten über die Gleise senken und in 23 Meter Höhe zu Bügeln verbinden
VON ULRICH SCHULTE
Es schon sehenswert, wenn zwei dutzend Hauptstadt-Journalisten schwitzend in einem Baucontainer hocken, und vorne steht Hany Azer und macht seinen Job. Der kleine, drahtige Mann erklärt mit der Energie einer Diesellok sein Projekt. Es heißt: Absenken der Bügelbrückenbauten. „54 Stunden Zeit, 6 Meter senken wir pro Stunde, verstehen Sie! Da machen Sie eine wunderschöne Kreisbogenberechnung, schon haben Sie den Winkel. Wie mit Ihren Kindern bei den Hausaufgaben zu Hause. Verstehen Sie?!“ Nicht ganz. Aber immer mit der Ruhe.
Der neue Hauptbahnhof bekommt noch ein Querdach verpasst, dort, wo bisher noch eine Lücke klafft. Das Dach wird auf zwei Bügeln ruhen. Um den Zugverkehr nur kurz lahm zu legen, will die Bahn die Hälften der Bügel von beiden Seiten des Bahnhofs herunterklappen – wie Zugbrücken einer Ritterburg. Das zu erklären ist der Job des technischen Projektleiters Azer. Er macht ihn mit sympathischer Leidenschaft; ein Pappmodell mit zwei handelsüblichen Gummibändern hilft ihm dabei.
In der Realität besteht das obere Gummiband aus vier 30 Zentimeter dicken Stahltrossen. Über sie wird eine Hubvorrichtung jeden der vier Türme anheben. Die Grafiken zeigen das Prozedere im Querschnitt. Über ein riesiges Scharnier fängt der 1.250 Tonnen schwere Turm an zu kippen. Das passiert übrigens mit einer Geschwindigkeit von 6 Metern pro Stunde, wie Azer eingangs erwähnte.
„Bei einem Winkel zwischen 37 und 40 Grad ist der kritische Moment: Dann verlagert sich der Schwerpunkt“, sagt er. Gummiband zwei, vertreten durch acht Stahltrossen, muss ran, damit die Konstruktion nicht aus 23 Meter Höhe auf die Gleise kracht. Wenn nichts dazwischenkommt, bleibt zwischen den gekippten Türmen gerade mal ein Abstand von 2 Zentimetern. Dann werden sie verbunden (laut Azer: „verschlossert“).
Dazwischenkommen könnte zum Beispiel eine Sturmböe. Das ist aber unwahrscheinlich. Bis Windstärke 8 – das sind 107 Kilometer pro Stunde – kann die computergesteuerte Hydraulik Bewegungen ausgleichen. Bei einem Stromausfall springt ein Notstromaggregat ein. Die Sicherheitsnormen übertreffe man um ein Fünffaches, sagt Azer. „Wir haben immer gut gebaut. Das wissen Sie. Vertrauen Sie uns.“ Na gut.
Wem das nicht reicht: Den besten Blick auf das Spektakel haben Schaulustige sowieso aus der Ferne. Azer empfiehlt die Wiese vor dem Reichstag. Schließlich sind es schon beachtliche Dimensionen, die dort bewegt werden: Jeder Turm ist 43,5 Meter lang, die fertige Brücke überspannt also 87 Meter im freien Raum. In den Bügeln sollen 42.000 Quadratmeter Bürofläche entstehen. Das entspricht sechseinhalb Fußballplätzen. Wer Interesse hat, kann übrigens mal bei der Bahn anrufen. Eines der Gebäude ist noch zu mieten, das andere bezieht die Bahn selbst. Vielleicht ist es doch nicht so einfach, Mieter für einen Luxusbahnhof in einem fast toten Gebiet zu finden.
Doch dies ist eine Grundsatzfrage, die gestern keine Rolle spielte bei all dem demonstrativen Stolz auf das Vorzeigeprojekt Hauptbahnhof. Nicht umsonst haben sie die Carmina Burana gespielt vor der Pressekonferenz. Über Geld redete man nicht, nur so viel: „Das Kippverfahren ist in der Gesamtkalkulation günstiger für uns – wenn man die Sperrungen und Umleitungen mit einrechnet“, sagt Azer. Sprich: Klappen ist zwar teurer. Für die konventionelle Bauweise mit Stützen auf den Gleisen hätte die Stadtbahn aber sieben Wochen stillgelegt werden müssen.
Es muss noch einiges passieren, damit am letzten Juliwochenende pünktlich geklappt werden kann. Die Basisgebäude der zu kippenden Türme samt Treppenhäusern zeichnen sich derzeit nur durch ein Gerüst riesiger Stahlträger ab, die Bauarbeiter müssen noch sämtliche Wände mit Beton eingießen. „Bevor wir kippen, muss das aushärten – wir brauchen das Gegengewicht“, sagt Azer. Es kann also als sicher gelten, dass sich der Prachtbahnhof nicht von selbst zusammenfaltet. Begonnen wird mit dem westlichen Bügel. Idealerweise will Azer mit seinem Team am dritten Wochenende die ersten Teile des Querdaches einschieben (siehe Kasten).
Wenn alles fertig ist, soll zwischen den eingerasteten Bügeln und dem jetzt schon fertigen Glasdach ein Abstand von 2 Metern bleiben. „Da machen wir wunderschöne Deckenverkleidungen rein. Wir bauen immer schön. Glauben Sie mir“, sagt Azer. Mal sehen.
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