Oll Inklusiv-Gründerin über das Altern: „Ich bin ein Moment-Mensch“
Die Hamburgerin Mitra Kassai gründete den Verein Oll Inklusiv, um Senior:innen aus der Einsamkeit zu holen. Ein Gespräch über Sneaker und Falten.
Mitra Kassai, ist es despektierlich, Senioren „Alte“ zu nennen?
Mitra Kassai: Nee, wieso? Senioren sind doch alt oder oll, wie wir Norddeutsche sagen. Ich finde es sogar äußerst respektvoll, das Alter von Menschen mit viel Lebenserfahrung mitzusprechen. Weil wir andererseits die jüngsten Alten der Geschichte haben, nennen wir sie aber noch respektvoller Senioren und Señoritas …
… die entsprechend immer jünger werden, wenn man sich Werbung, Filme oder eine Initiative wie Oll Inklusiv anschaut. Ist 70 das neue 30?
Zahlenmäßig auf jeden Fall, wenn man sich die Bevölkerungspyramide so ansieht.
Weil die sich umdreht, könnte irgendwann also auch 90 die neue 30 sein?
Da würde ich mich von solchen Vergleichen vielleicht doch mal lösen. Aus meiner Sicht steht beim Altern stets das Individuum im Vordergrund. Ich bin ja auch schon fast 50 und trage Sneaker, die eigentlich mal für 30-Jährige reserviert waren. Aber wer sagt denn, was für welche Altersgruppen gemacht wurde? Gibt’s offizielle Dresscodes? Ich finde nicht. Deshalb ist es reiner Egoismus, der mich dazu gebracht hat, Oll Inklusiv zu gründen. Ich möchte, dass jeder so sein darf, wie er will.
Gibt es unabhängig von der persönlichen Sicht eine Art kulturellen Konsens, wann die Jugend beginnt und das Alter endet?
Womöglich, aber Udo Jürgens hat schon in den Siebzigern den Meilenstein verschobener Alterswahrnehmung gelegt und gesagt: „Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an.“ Seither ist es legitim, zeitlos zu leben. Das mache ich auch und versuche echt, den Augenblick zu genießen, also weder nostalgisch zu sein, noch dauernd an morgen zu denken. Das Leben setzt sich aus Momenten zusammen. Ich bin ein Moment-Mensch.
Wäre schön, wenn die Restgesellschaft das auch so sähe …
Klar, die strukturiert das Leben nach Altersgrenzen. Schule mit sechs, Studium mit 18, Arbeit mit 25, Rente mit 63. Dieser Normierung dürfen alle gern folgen, aber wie wir die Zwischenräume füllen, ist variabel. Bei mir hängt das davon ab, wie viel Zeit ich habe. Je mehr davon übrig ist, desto mehr denke ich über sie nach – immer mit dem Gedanken im Hinterkopf, das Leben könnte jetzt, genau jetzt, vorbei sein – aber genauso gut nochmal so lange gehen wie bislang. Ich will jedenfalls die erste in meiner Familie sein, die 90 wird, und trotzdem noch alles können und vor allem auch: alles wollen.
1972 geboren in München, arbeitet seit über 30 Jahren in der Kultur- und Musikbranche – 20 Jahre davon in Hamburg, unter anderem als Managerin der Hip-Hop-Gruppe Fünf Sterne Deluxe. Ende 2017 hat sie den gemeinnützigen Verein Oll Inklusiv gegründet, die der Generation 60+ mit über 30 Ehrenamtlichen originell den Lebensabend auffrischen will.
Wann haben Sie das erste Mal übers Alter, also den Lebensabend nachgedacht?
Da wurde ich von meiner großartigen Mutter beeinflusst, die sehr viel gereist ist und uns vermittelt hat, dasselbe zu tun – um die Welt zu sehen und Scheuklappen zu verlieren. Jetzt ist sie 80, wohnt in einer betreuten Einrichtung und meinte irgendwann zu mir: „Du machst doch was mit Musik und Kultur, kannst du dir nicht mal was für uns ausdenken?“
Sie waren vorher also nicht in der Altenpflege?
Ich bin auch jetzt nicht in der Altenpflege, sondern Altenbetreuung und sorge für Spiel, Spaß, Spannung, Schokolade. Aber gelernt hab ich Hutmacherin, wollte eigentlich Journalistin werden, bin dann aber irgendwann im Bereich Musik-Kunst-Kultur gelandet.
… aus soziokultureller Sicht das genaue Gegenteil klassischer Altenbetreuung, und dann auch noch mit einer Kindskopfband wie Fünf Sterne Deluxe. Das ist ein großer Sprung.
Aber einer, den ich auch ganz persönlich erlebe. Wenn ich in Clubs gegangen bin, wurde ich irgendwann zusehends gesiezt und war so weit weg von der Jugendkultur, dass ich eben nicht mehr mittags aufgestanden bin, um ab Mitternacht feiern zu gehen. Da dachte ich mir, wieder ganz egoistisch, was ich denn für ein Entertainment möchte, wenn ich wirklich mal so oll bin, für wie die mich halten.
Und das war was anderes als das Entertainment, in dem Sie beruflich noch arbeiten?
Nicht grundsätzlich. Deshalb hat jemand unsere Arbeit mal als Brückenbau bezeichnet. Weil die Straße für Alte manchmal zu dicht befahren ist, bin ich die Brückenbauerin von einer Seite zur anderen, um das Alter unterhaltsam zu machen.
Zugleich hat Altern aber auch mit Verfall und Verlust zu tun. Feiern Sie sich beides gewissermaßen weg?
Sagen wir mal so: Ich möchte Verfall und Verlust akzeptieren, aber das Beste draus machen. Früher war ich die totale Nachteule, bin spät ins Bett gegangen und noch später aufgestanden. Jetzt bin ich Frühaufsteherin und merke den körperlichen Abbau, lasse mich davon aber so wenig unterkriegen wie von der Tatsache, dass meine Kleidergröße steigt. Denn genauso, wie man mit 66 nicht mehr zuhause sitzen muss, darf man mit 66 auch dick, faul, grau und faltig sein. Hauptsache, man steht dazu.
Genau da üben Gesellschaft und Medien allerdings gehörigen Druck auf Ältere aus, die besonders in der Reklame gern wie 30-Jährige mit stahlgrauem Haar aussehen.
Unmöglich!
Legt eine Initiative wie Oll Inklusiv die Messlatte nicht ihrerseits höher, im Alter fit und aktiv sein zu müssen, statt auf dem Sofa ZDF zu glotzen?
Das finde ich schon deshalb nicht, weil unser Angebot vor allem nachmittags stattfindet und endet, wenn die meisten ihre Abendroutine starten. Eine Stammgästin hat das so formuliert: Zuhause sei sie vor allem Hausfrau, Witwe, Oma. Bei uns ist sie unter ihresgleichen auf Augenhöhe. Wenn ich mit 16-Jährigen rumhänge, komme ich mir auch älter vor. Bei unseren bunten Nachmittagen wird aus Oma wieder Rita und aus Opa wieder Peter. Alter ist ein Kopfding.
Verbringen Sie eigentlich auch privat mehr Zeit mit älteren Menschen?
Mein Freundeskreis ist nicht Ü60, aber der Bezug zum Alter hat sich zum Glück extrem positiv verändert. Auch, wenn es viele nicht wahrhaben wollen: Alter geht uns alle an.
Macht diese Gewissheit am Ende angstfreier?
Anscheinend schon. Ich habe weder Angst vorm Altern noch vorm Alter, aber auch nicht vorm Sterben. Denn damit befasst man sich in diesem Beruf fast automatisch mit.
Würden Sie in der aktuellen Pandemie, die unser Leben mit Begriffen wie Impfpriorisierung oder Triage gerade neu sortiert, sagen: Jedes ist exakt gleich erhaltenswert?
Auf jeden Fall.
Ein 75-Jähriger mit Krebs, der vorm 25-jährigen Familienvater in die Klinik kommt, sollte das letzte Atemgerät kriegen?
Weil ich jedes Leben in jedem Stadium als einzigartiges Geschenk betrachte, wäre ich für die philosophische Betrachtung dieser Frage völlig ungeeignet. Aber ich freue mich für jeden, der zu seiner Zeit einfach umfällt und tot ist. Leid finde ich scheiße.
Gibt es sonst was, das Ihnen am Alter grundsätzlich missfällt – Starrsinn zum Beispiel?
Als Frau vielleicht weniger als Ihnen. Aber wie man meinem Namen anhört, habe ich keine zwei deutschen Eltern. Mein Vater kommt aus dem Iran, da bin ich so multikulti aufgewachsen, dass mir Diskriminierung durch Hautfarbe, Herkunft, Sexualität oder eben Alter völlig fremd ist. Solange man mich nicht bittet, will ich einfach niemandem erzählen, wie er oder sie sein soll.
Glauben Sie, eine Einrichtung wie Ihre im Dienst einer selbstlosen Sache kann etwas daran ändern, dass die meisten das mit der Diskriminierung leider nicht sehen?
Für mich ist trotz aller individuellen Unterstützung für unsere Senioren und Señoritas auf jeden Fall ein Motor, die Welt ein kleines Stückchen besser zu machen. Und sei es nur, als Kirsche auf der Torte. Das geht, glaube ich, allen bei uns so, sonst würden sie ja nicht so viel ehrenamtliche Arbeit oder Spendengeld investieren.
Hauptberuflich sind Sie aber doch noch in der Musikszene tätig.
Wenn es endlich mal weiterginge … Und das muss jetzt auch bald mal losgehen. Ich verdiene damit ja nicht nur meinen Lebensunterhalt, ich brauche sie auch als Motor, ich brauche mein modernes Leben genauso wie den Brückenbau.
Wobei Sie gleich mit den zwei Hauptbetroffenen der Pandemie zu tun haben: den Jungen, denen sie das Feiern genommen, und den Alten, der sie Hausarrest verordnet hat.
Das ist ein ganz wichtiges Thema, auch privat: Weil ich das Leid der Alten kaum ertragen konnte, war ich sogar Heiligabend in der Einrichtung. Auf der anderen Seite der Brücke, bei mir im Viertel, habe ich viele Freunde, die finanziell auf dem Trockenen sitzen. Es geht da zwar selten um Leben und Tod, aber genauso ums Ganze. Dieses Verlustgefühl kommt dem des Alterns sehr nahe, das macht mich auch als DJ fertig. Dafür habe ich in der Krise gelernt, auch auf mich selbst besser aufzupassen. Wer anderen helfen will, muss zunächst sich selbst helfen können.
Sie sind also krisenfest?
Ich sehe Krisen nun eher als Chancen – wobei ich schon in der Schule unter Druck produktiver war. Aber nicht, weil ich ihn brauche, sondern lange nachdenke, bevor ich was raushaue. Deswegen hatte ich auch mal Burnout.
„Burnout“ heißt Depression?
Kluge Frage, Burnout war früher die bürgerliche Umschreibung der Krankheit. Trotzdem kam meine nicht aus dem Nichts, sondern von zu viel Arbeit, zu wenig Achtsamkeit. Als sie mir in der Klinik die Schrauben nachgezogen haben, wurde mir klar, das machen zu müssen, was gut für mich ist. Auch dank Oll Inklusiv weiß ich es nun zu schätzen, weniger Geld zu verdienen, aber glücklicher zu sein. Was ich vor allem gelernt habe: Schwäche eingestehen, Hilfe suchen und auch annehmen. Mein Glas ist wieder halb voll.
Wie ist das bei denen, die zu Oll Inklusiv kommen – ist deren Mentalität offen und dem Leben zugewandt oder kommen da auch welche, bei denen das Glas halb leer ist?
Mehr von ersteren, aber auch letztere. Das Feedback, durch uns Lebensmut zu schöpfen, ist unersetzlich. Dafür habe ich eine App programmiert, mit der sich unsere Gäste über die Einrichtung hinaus vernetzen können. Auch so eine Brücke. Trotzdem kommen auch viele zu uns, denen das zu laut, zu voll, zu wild ist. Völlig okay, das motiviert uns, auch denen Angebote zu machen. Wir wollen die Welt ja retten, nicht beschleunigen.
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