piwik no script img

ADFC zieht Bilanz der VerkehrspolitikVerfahrene Situation

Trotz einer grünen Verkehrssenatorin habe sich die Lage auf den Straßen für Rad­fah­re­r*in­nen kaum verbessert, kritisiert der ADFC.

Brauchen keine Autobahn: Radler*innen, hier beim Protest gegen die A 100 im April Foto: dpa

Berlin taz | Der Berliner ADFC hat der Politik der grünen Verkehrssenatorin Regine Günther ein schlechtes Zeugnis ausgestellt. „Berlin ist deutlich hinter seinen Möglichkeiten geblieben“, findet Frank Masurat, im Vorstand des Berliner Rad­le­r*in­nen­ver­bands für Politik und Finanzen zuständig.

Schlimmer noch: Bis auf die Pop-up-Radwege sei nicht viel passiert; die Sicherheit für Fuß­gän­ge­r*in­nen und Rad­le­r*in­nen sei nicht besser geworden; die Vorgaben des in dieser Legislatur verabschiedeten Mobilitätsgesetzes würden nicht eingehalten. „Die Landesregierung bricht Landesrecht“, sagte Masurat am Dienstag vor Journalisten. In Berlin regiert seit Dezember 2016 eine rot-rot-grüne Regierung, im September wird das Abgeordnetenhaus neu gewählt.

Anlass des Gesprächs ist der ADFC-Katalog mit Forderungen für die nächste Legislaturperiode. Und die sind ebenso deutlich wie die Kritik an der Senatorin. Zum einen sollte der Verkehrsraum zu Ungunsten des motorisierten Individualverkehrs umgestaltet werden. Der ADFC fordert ein Verbot von Fahrzeugen mit fossilen Verbrennungsmotoren bis 2030; zudem sollte der Autobestand sich bis dahin halbieren. Um dieses Ziel zu erreichen, könnten jährlich 60.000 Parkplätze wegfallen und die restlichen deutlich teurer werden als bisher. Als Preis für die Parkvignette für An­woh­ne­r*in­nen schweben dem Verband mindestens 240 Euro pro Jahr vor, derzeit sind es 20 Euro.

„Für die Verkehrswende müssen die Menschen ihr Verhalten ändern“, betonte Masurat. Die Pandemie sorge derzeit für eine solche Verhaltensänderung. „Wir sollten in Berlin diese Chance nutzen.“ Er fordert deswegen, Modellprojekte wie die autofreie Friedrichstraße in Mitte – also die veränderte Nutzung in einer Geschäftsstraße – auch in anderen Bezirken umzusetzen. Auch sollten sogenannte Kiezblocks, die den Autoverkehr aus Nebenstrecken heraushalten, an fünf Orten in jedem Bezirk eingesetzt werden. Und natürlich dürfe die Stadtautobahn A 100 nicht verlängert werden.

Zudem müssten bestehende Regeln konsequent umgesetzt werden. Bereits seit Sommer 2020 sollte der verpflichtende Radverkehrsplan von Rot-Rot-Grün vorliegen. Doch: „Wir haben nicht mehr viel Hoffnung, dass das bis September noch passiert.“ Der Plan schreibt unter anderem den Ausbau von Radstreifen an Hauptstraßen vor. Für den ADFC ist er das wichtigste Dokument für die Umsetzung des Mobilitätsgesetzes.

Auch lasse sich die Sicherheit von Rad­le­r*in­nen und Fuß­gän­ge­r*in­nen durch einfache Maßnahmen relativ leicht verbessern. „Wenn klar ist, dass ein Unfall an einer Kreuzung auch auf die Infrastruktur zurückzuführen ist, darf diese Kreuzung nicht einfach wieder freigegeben werden, wie das derzeit passiert“, sagte Masurat. Vielmehr müsste erst Abhilfe geschaffen und zum Beispiel das zweistreifige Abbiegen abgeschafft werden. Generell sollten Kreuzungen nach niederländischem Vorbild umgestaltet werden.

Hoffnung ploppt auf

Hoffnung machen Masurat die Pop-up-Radwege, die zu Anfang der Pandemie als temporäre Maßnahme angelegt wurden, aber nun verstetigt werden. „Hier wurde schnell die Infrastruktur der Stadt verändert; die Verwaltung hat agil agiert“, lobte der ADFC-Vorstand. Das Vorgehen sollte ausgeweitet werden, etwa auf die Anlage neuer Busspuren.

2026, so das Wunschbild des Verbands, würden dann keine Rad­le­r*in und keine Fuß­gän­ge­r*in mehr im Straßenverkehr sterben müssen, selbst Kinder trauten sich, Radwege zu nutzen; falschparkende Autos gehörten dank umfassender Kontrollen der Vergangenheit an, und auch Firmen setzten auf Lastenräder. Vor allem gehöre das „Zuständigkeitswirrwarr“ zwischen den Verwaltungen dann der Vergangenheit an.

Die viel gescholtene Verkehrsverwaltung wies gegenüber der taz den Vorwurf zurück, man sei untätig gewesen: Die Mobilitätswende sei eingeleitet, auch für Fahrräder, teilte Sprecher Jan Thomsen mit. Allerdings bräuchten Infrastrukturverbesserungen immer ihre Zeit, weil umfangreiche Planungsprozesse mit intensiver Bürgerbeteiligung zwingend dazugehörten.

Man breche auch nicht das Mobilitätsgesetz: „Über einzelne Umsetzungen gibt es selbstverständlich viele Debatten, auch weil teils komplett neue Prozesse wie die Entwicklung geschützter Radfahrstreifen aufgesetzt wurden“, so Thomsen weiter. Der Verzug beim Radverkehrsplan sei auf dessen Komplexität und auch auf Corona zurückzuführen: „Die Planung eines komplett neu konzipierten, mehrere tausend Kilometer umfassenden Radverkehrsnetzes hat sich als deutlich zeitaufwändiger erwiesen, als dies am Anfang absehbar war.“ Derzeit würde er aber „finalisiert“, auch dank der Anregungen des ADFC.

Dessen Vorschlag, Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren aus der Stadt zu verbannen, wird von Senatorin Regine Günther unterstützt: Bis 2030 solle dies in der Innenstadt so weit sein, bis 2035 dann in ganz Berlin. „Derzeit werden hierfür die rechtlichen Voraussetzungen geprüft“, so Thomsen. Auch die Erhöhung der Anwohnerparkgebühren stehe auf der Agenda. Aber: „Zur genauen Höhe und Ausgestaltung gibt es noch keine abschließende Positionierung.“

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
  • 1G
    17900 (Profil gelöscht)

    Mehr kostenfreie Parkhäuser mit Schnellladestationen würden freie Flächen in den Straßen schaffen.



    Es sind v.a. die Berufstätigen, die ihr Auto bei uns in der Gegend wochentags abstellen, obwohl es ein großes Parkhaus gibt - ist aber viel zu teuer, weil die Leute das selbst bezahlen müssen. Der Arbeitgeber sollte diese Kosten übernehmen.

    Am Wochenende gibt es keinerlei Parkplatzprobleme.

    Noch besser wäre es, die P&R-Plätze an den S-Bahnstationen auszubauen. Eine Forderung, die es schon lange gibt. Die Politik reagiert nicht! Versager, nicht nur in Berlin!



    Das Drama kann man sich jede Woche am Bhf Wannsee ansehen. Dort ist die B1 völlig zugeparkt.

    Aber Feindbilder aufzubauen, ist natürlich deutlich billiger!