: Eine Frau mit Visionen
Ärztekammerpräsidentin Heidrun Gitter war Medizinerin aus Überzeugung und die vielleicht sachlichste Gesundheitsfunktionärin der Welt: eine bewundernswerte Frau
Von Benno Schirrmeister
Schwer vorstellbar, dass Heidrun Gitter im Alter von nur 60 Jahren gestorben sein soll: Die Ärztekammerpräsidentin war die wahrscheinlich vitalste Person, mit der man es im Laufe der letzten 20 Jahre im öffentliche Bremen zu tun bekommen konnte. Sie war eine wirklich bewundernswerte Frau.
Schon ein kurzer Blick von ganz außen auf den Lebenslauf – Jura plus Medizinstudium inklusive USA-Aufenthalt in Rekordzeit, mit 33 Jahren ist sie schon promoviert und fertig ausgebildete Fachärztin fürs heikle Feld der Kinderchirurgie, und immer ist sie nebenher in der Ärztegewerkschaft Marburger Bund und der Kammer aktiv – macht ja klar: Diese Person war unglaublich zielstrebig, extrem engagiert – hätte die alleinerziehende Mutter je einen Elternabend ausgelassen? – und wahnsinnig belastbar.
Jeder, der sie auch nur ein bisschen kannte, wusste: Heidrun Gitters Antrieb war nicht irgendein bescheuertes Karriere- oder Machtstreben. Diese Frau hatte so etwas wie ein Sendungsbewusstsein. Heidrun Gitter war Ärztin aus Überzeugung. Sie setzte sich, auch gegen die Dogmen ihrer eigenen Religionsgemeinschaft, für eine medizinisch angemessene Organisation von Schwangerschaftsabbrüchen ein. Vor allem aber hatte sie eine glasklare Vorstellung davon, wie ein sozial gerechtes Gesundheitswesen aussehen müsste und wie Ärzt*innen dafür optimal aus- und weiterzubilden wären. Und sie tat viel dafür, diese Vision zu verwirklichen, zum Beispiel, parteipolitisch ungebunden, in Gremien als wahrscheinlich sachlichste Berufsstandsfunktionärin der Welt. Zuletzt hatte sie – seit 2019 – sich zur Vizepräsidentin der Bundesärztekammer wählen lassen.
Gefühlt ewig schon amtierte sie als Präsidentin der Bremer Ärztekammer und vorher hatte sie als Chefin des Marburger Bundes in Bremen zwei Ärztestreiks organisiert, die sie gegen wirklich unsägliches Gestänker von Ver.di verteidigen musste. Sie hat aber auch ein Modell entwickelt und dafür gesorgt, dass es 2010 implementiert wurde, das die Mediziner*innen-Weiterbildung in Bremen optimal mit dem kommunalen Klinikwesen verzahnt: wichtig, um Nachwuchs zu rekrutieren. Gleichzeitig blieb sie auch Praktikerin. Bis 2020 stand sie als Oberärztin im Klinikum Mitte regelmäßig am Tisch.
Dabei war sie – nee, nee, gewiss nicht zimperlich, eine Chirurgin, die zimperlich ist, ist das letzte, was die Welt braucht. Wenn Gesundheitssenatorin Claudia Bernhard (Die Linke) in ihrer Würdigung daran erinnert, dass Gitter auch zuletzt während der zahlreichen Beratungen über die Pandemie-Maßnahmen „kein Blatt vor den Mund genommen und die Dinge auf den Punkt gebracht“ habe, ahnt man durch die Floskeln hindurch: Die Ärztin war in Beratungsrunden eine von denen, die das Tempo forcierten, zum Wohle aller. Gitter konnte auch im Streit die totgeborenen Argumente der Gegenseite mit scharfem Skalpell sezieren: zum Beispiel, als die Bremer Ärztekammer als Erstes die Homöopathie-Fortbildung aus dem Programm kickte.
Claudia Bernhard (Die Linke), Gesundheitssenatorin
Die Globuli-Gläubigen probten damals den Aufstand und sprachen von Verbot. Aber Gitter machte klar, dass es nicht darum gehe, jemandem die Praxis zu untersagen. Bloß: ohne wissenschaftliche Basis, wie soll man da Lernziele definieren und überprüfen? Lehrsätze aus Samuel Hahnemanns medizinhistorisch bedeutsamem „Organon“ von 1810 auswendig zu lernen und abzufragen, sei zwar möglich, „aber mit klassischen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen hat das nichts zu tun“.
So etwas haben ihr die Unterlegenen, vor allem Männer, mitunter krumm genommen. Aber eigentlich wirkte sie auch in der Kontroverse erfrischend herzlich und zugewandt: Sie konnte nämlich sehr, sehr lustig sein, auch und gerade, wenn sie sich in Rage redete über grassierende Dummheit und Fehlentwicklungen im Gesundheitssektor. Ihr Humor war dabei trocken. Zugleich nahm sie sich fast jedes Jahr ein oder sogar zwei ihrer wertvollen Wochenenden Zeit, um in einer von Norddeutschlands prächtigen Jugendherbergen in ausgetüftelten Assessment-Center-Programmen nach förderungswürdigem akademischem Nachwuchs zu fahnden, und immer, wenn wir uns bei irgendeinem dieser ehrenamtlichen Auswahlseminare trafen, nahmen wir uns vor, uns irgendwann mal zum Doppelkopf zu treffen. Aber das hat terminlich dann nie hingehauen. Natürlich nicht: Heidrun Gitter war immer eingespannt, wie auch nicht?
„Bis zuletzt“, heißt es im Nachruf der Ärztekammer, „arbeitete sie unermüdlich bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie mit“, im Krisenstab und als Vorsitzende der Impfkommission, die dafür sorgt, dass Menschen in individuell gesundheitlich schwierigen Situationen so schnell wie möglich immunisiert werden. Heidrun Gitters viel zu früher Tod ist schrecklich traurig. Man wird nicht lange brauchen, um zu merken, wie sehr sie jetzt schon fehlt.
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