Den eigenen Hintergrund hinterfragen: Keine Selbstidentifikation
Empathie mit den Opfern des NS-Regimes ist gut. Bei Zeitzeug*innengesprächen kommt es aber oft zur Überidentifikation.
D er hundertste Geburtstag meiner Freundin Trude Simonsohn, Zeitzeugin und Auschwitz-Überlebende, gehört für mich zu den guten Nachrichten der letzten Wochen. Lange schon war der Termin Ende März notiert, aber natürlich, eine gewisse Ungewissheit war da. Umso mehr freute mich, dass Trude das Jubiläum mit dem für sie typischen Kampfgeist kommentierte: „Manchmal ist es nicht leicht, hundert Jahre alt zu werden. Aber für mich ist jeder Geburtstag ein kleiner Sieg.“
Gelegentlich entsteht der Eindruck, dass Zeitzeug*innen wie Trude immer schon Teil der Erinnerungskultur waren. Doch wie viele andere Überlebende betont Trude, dass sich für ihre Geschichte jahrzehntelang niemand interessiert habe.
Erst nach der Ausstrahlung der amerikanischen TV-Serie „Holocaust“ in Deutschland 1979 wuchs langsam das Interesse an der Geschichte der Überlebenden. Übrigens nicht nur in Deutschland – auch in Israel musste erst der Eichmann-Prozess 1961 stattfinden, bevor man sich für die Erzählungen der Opfer interessierte.
Bis kurz vor Corona traf sich Trude noch mit Schulklassen. Bei solchen Gelegenheiten erzählt sie, wie sie ins Ghetto Theresienstadt deportiert wurde, wo sie ihren zukünftigen Mann Berthold kennenlernte. Nur über Auschwitz spricht sie kaum – der Schrecken, schreibt sie in ihren Erinnerungen, habe eine „Ohnmacht der Seele“ ausgelöst. Lediglich das Gesicht Mengeles hat sie noch in Erinnerung. Niemand kann sagen, mit wie vielen Jugendlichen sie in den letzten dreißig Jahren gesprochen hat – sicher Tausende.
War Opa ein Nazi?
In einer Studie 2019 geben 32 Prozent der befragten Jugendlichen an, schon einmal an einem Zeitzeug*innengespräch teilgenommen zu haben. Wenn man bedenkt, wie wenige Überlebende unter uns sind, ist das sehr beeindruckend. Vergessen werden aber oft die anderen „Zeitzeug*innen“, die absolute Mehrheit der Täter*innen, Mitläufer*innen und Zuschauer*innen, die keine Gespräche mit Schulklassen führen. Doch sie reden, am Küchentisch oder im Familienurlaub mit den Enkelkindern.
Was „ganz normale Deutsche“ aus der NS-Zeit erinnern und was davon weitergegeben wird, hat Harald Welzer in seinem Buch „Opa war kein Nazi“ beschrieben. Auch die Studien zum „Erinnerungsmonitor“ zeigen: Viele Deutsche glauben, dass Opa nicht nur kein Nazi, sondern selbst Opfer war oder jüdischen Personen geholfen habe.
Und diese Vorstellungen nehmen zu: 2019 glaubten noch 28 Prozent der Befragten, dass ihre Vorfahren Opfern geholfen haben; 2020 schon 32 Prozent. Über 40 Prozent denken, dass sie im Nationalsozialismus selbst zu den Verfolgten gehört hätten.
In deutschen Familien gibt es demnach vor allem Berichte über die Opfer- und Helfer*innenschaft der Vorfahr*innen – nur selten aber über Täter*innenschaft. Interessanterweise befürworten Personen, die sich selbst zu potenziellen Opfern oder Helfer*innen zählen, auch stärker einen Schlussstrich unter die Nazizeit.
Fiktive Identifikation und artifizielle Betroffenheit
Die Historikerin Ulrike Jureit und der Soziologe Christian Schneider kritisieren, dass sich die Nachkommen der Täter*innen ein „geliehenes Selbstbild des gefühlten Opfers“ angeeignet haben, um sich damit selbst von Schuld zu befreien. Wenn das Problem der Erinnerungskultur ist, dass es zu „fiktiven Identifikationen mit Opfern“ und „artifizieller Betroffenheit“ kommt, wie Jureit und Schneider argumentieren – was heißt das dann für die Zeitzeug*innenprogramme? Polemisch gefragt: Sind sie vielleicht sogar kontraproduktiv?
Die Entwicklung von Empathie und Identifikation mit den Opfern ist zunächst nicht problematisch, vielmehr Voraussetzung dafür, sich ein moralisches Urteil über die Vergangenheit zu bilden und sich dafür zu engagieren, dass Auschwitz sich nicht wiederhole. Nur durch Empathie kann ich eine Verbindung zu Unbekannten schaffen, an ihrem Schicksal Anteil nehmen. Dabei darf aber nicht das Bewusstsein der Differenz zwischen dem Ich und dem Anderen, die Grenze zwischen Empathie und Selbstidentifikation schwinden.
Wir müssen Wege finden, eine Empathie zu vermitteln, die nicht zur Überidentifikation führt. Keine leichte Aufgabe in einer Zeit, in der immer weniger Überlebende unter uns sind, aber immer mehr Menschen, die sich Judensterne mit der Aufschrift „ungeimpft“ aufkleben oder sich als Sophie Scholl inszenieren. Eine Aufgabe, für die man sich den Kampfgeist einer Trude Simonsohn zum Vorbild nehmen sollte.
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