Auswirkungen der Coronapandemie: Das wilde Herz der Kultur
Wofür brauchen wir eigentlich Kultur? Als geistige Tankstelle, wie es manche Mächtige wollen, macht sie sich überflüssig.
Z u den mittelfristig und langfristig Leidtragenden in der Pandemiekrise gehören sicher jene Menschen, die man altmodisch „Kulturschaffende“ und im Neusprech Produzenten in der „Kreativwirtschaft“ nennen kann. Die einen sind heftig, die anderen lebenskatastrophal betroffen. Verlustlos kommt wohl kaum jemand davon.
Die meisten hören nicht etwa auf zu arbeiten, sie können ihre Arbeit nur nicht mehr im gewohnten Maße auf den Markt bringen, was vor allem für jene gilt, die, wie man so sagt, „frei“ arbeiten. Theater, Galerien, Kinos, Museen, Konzertsäle, Buchhandlungen, Clubs etc. sind mal geschlossen, mal wieder halboffen, mal hybridisiert und mal einfach verschwunden.
Das ist das eine. Das andere aber ist ein unterschwelliger Konflikt: Wird Kultur eigentlich gebraucht? Sind Buchhandlungen so wichtig wie Getränkemärkte, Sportplätze wichtiger als Theater, und wie viele junge bildende Künstler*innen sind so „systemrelevant“ wie eine Pflegekraft? Nicht die Kultur, sondern ihre politische Ökonomie steht auf dem Spiel. Vielleicht ist diese Krise Anlass, nachzudenken, was das eigentlich ist: Kultur.
Die eine Definition umfasst mehr oder weniger alles, was zwischen Menschen passieren kann, von Umgangsformen über Riten und Symbole bis zum Austausch von Wissen und Ideen. „Kultur ist der besondere Umgang mit der Welt, der eine bestimmte Gemeinschaft auszeichnet“, sagt der Sozialanthropologe Ernest Gellner.
Deshalb bricht immer mal wieder ein „Kulturkampf“ in einer Gesellschaft aus, wenn die eine Hälfte so (zum Beispiel ökologisch) und die andere Hälfte so (zum Beispiel kapitalistisch) mit der Welt umgehen will.
Ein prekärer Beruf – im doppelten Sinn
In einem engeren Sinn kann man Kultur aber auch als Produktion und Widerspiegelung (etwa als Kritik) dieser Umgangsformen ansehen, also all die Texte, Bilder, Inszenierungen, Kompositionen, Reenactments, Installationen und Reflexionen, die eine besondere ästhetische Form annehmen und von Menschen erzeugt werden, die sich ebendies als Beruf ausgesucht haben: Kultur.
Das ist eine prekäre Situation, denn Kultur als Beruf ist erheblich von Politik und Ökonomie abhängig. Kultur muss sich mit dem Geld und mit der Macht arrangieren, sonst geht es ihren Produzent*innen schlecht. Aber paradoxerweise verliert sie auch rasch an Wert, wenn sie sich nicht unablässig von dieser Abhängigkeit befreien würde wollen.
Diese Kultur ist eine innere Wildnis, die beständig neu erobert, domestiziert und kapitalisiert werden soll, nur um gleich darauf an anderen Stellen wieder wild zu werden. Der Haken an dieser Beziehung: Kultur, die nichts anderes als „systemrelevant“ ist (die „geistigen Tankstellen“, von denen unsere Kulturstaatsministerin sprach), ist nicht einmal für Politik und Ökonomie von großem Wert.
Ganz davon abgesehen, dass sie dann ungefähr so lustvoll ist wie eine Dreiviertelstunde Gedichtaufsagen im Deutschunterricht. Schwarzromantisch ausgedrückt: Kultur, die dazu getrimmt wird, ihr eigenes wildes Herz zu brechen.
Der große digitale Umbruch
Die Pandemiekrise macht nur sichtbarer und schneller, was ohnehin stattfindet, nämlich eine große Umorganisation der Kultur. Mancherorts sieht das aus wie ein veritables Verschwinden oder Vernichten. Viele alte Kanäle, Medien und Institutionen werden abgebaut. Man kann sich wundern, mit welchem Feuereifer manche dabei das Werk der Selbstabschaffung betreiben. Das hatte in den Rundfunkanstalten, Zeitungen und Kinos schon vorher begonnen, es wird auch nach der Krise weitergehen.
Denn der Plattform-, Streaming- und Onlinekapitalismus bedeutet viel mehr als einen technisch-ästhetischen Medienwechsel. Er will an der Kultur vollenden, was der Neoliberalismus mit allen anderen Lebensbereichen geschafft hat: Privatisierung, Digitalisierung, Globalisierung. Und nicht zuletzt: Willfährigkeit und Korruption. Nur: Mit Hosenscheißer*innen, Karrierist*innen und Opportunist*innen macht man keine lebendige Kultur. In der Kultur wird ausgehandelt, was sich eine Gesellschaft an innerem Widerspruch gefallen lässt und wo es Energien der Veränderung gibt.
Warum Kultur nicht untergeht
Vermutlich gibt es, seit es die Idee von „Kultur“ gibt, die Vorstellung, sie würde zerstört werden. Aber es geht weniger um ein Verschwinden als um eine Transformation. Dabei geht etliches verloren, einiges kommt hinzu, manches muss sich dramatisch verändern, und irgendwas wird in all dem Trubel gleich bleiben dürfen.
Es ist Quatsch, ständig vom großen kulturellen Untergang zu reden. Genauso aber ist es auch Quatsch, sich die Verluste schönzureden und zu verdrängen, dass es in jeder Transformation Verlierer und Gewinner gibt. Und auch Verlierer, die klasse waren, und Gewinner, die scheiße sind. Zu glauben, dass jede Transformation ein Fortschritt ist und jeder Fortschritt eine Verbesserung, das ist auch bei der Kultur ein Trugschluss.
Dass der Plattform- und Onlinekapitalismus durch die Pandemie eine enorme Bestätigung und Beschleunigung erfährt, das verändert nicht nur die medialen Transportwege und die politisch-ökonomische Situation der Produzent*innen in der Kultur. Das stellt auch den Grundkonsens der demokratischen Gesellschaft infrage, der ohnehin im Zustand des rapiden Abbaus begriffen scheint.
Freiheit? Die Wahl, entweder der Macht oder dem Geld in den Arsch zu kriechen? Die Wahl, vor den Drohungen der Neofaschisten einzuknicken? Die Wahl, von der Allianz aus neoliberalen Schnöseln und Rechtspopulisten plattgemacht zu werden oder lieber gleich kulturellen Selbstmord zu begehen wie die großen bürgerlichen Zeitungen, die Nachrichtenmagazine, die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, die ihre sinkenden Schiffe vom Ballast der „Kultur“ befreien?
Es gibt eine Lektion der Pandemiekrise: Eine Kultur, die Würde, Freiheit und Lust miteinander verbindet, hat weder in der Politik noch auf dem Markt verlässliche Verbündete. Sie muss sich selbst helfen, um dorthin zurückzukehren, wohin sie gehört: zu den Leuten. Nicht zum System.
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