Pandemische Zeiten im Fotobuch: Die Geisterhäuser
Wie fragil der eigene Lebensentwurf ist, erfahren gerade viele in der Clubkultur. Marie Staggat und Timo Stein haben sie in „Hush“ porträtiert.
Hinter diesen DJ-Decks wird heute Nacht niemand mehr stehen, aus diesen Lautsprecherboxen werden keine Bassfrequenzen tönen. An dieser Türsteherin wird niemand vorbeimüssen, diesem Toilettenmann wird keiner ein Trinkgeld hinlegen, unter diesen Discokugeln wird die Tanzfläche leer bleiben. In diesem Darkroom geht heute nichts mehr. Hier bleibt das Stroboskoplicht aus.
Es ist eine Geisterkulisse, die die Clubs in Berlin derzeit bieten. Vor genau einem Jahr haben sie coronabedingt geschlossen, viele von ihnen haben seither gar nicht mehr geöffnet, manche konnten im Sommer 2020 immerhin Open-Air-Veranstaltungen anbieten. Waren diese Orte zuvor – mit Foucault – Heterotopien, also Andersorte („tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte“, wie es der französische Philosoph ausdrückt), sind sie nun zu Unorten geworden.
Die Fotografin Marie Staggat und der Journalist Timo Stein haben die zwangsweise stillgelegten Clubs besucht. Staggat hat die Orte und die Menschen dahinter in Bildern, Stein hat sie in Worten porträtiert. In dem jetzt erschienen Band „Hush“ („Stille“) sind diese Clubbegehungen festgehalten.
42 Veranstaltungsorte und ihr Personal lernt man in dem deutsch-englischen Buch kennen, der Fokus liegt klar auf den Venues der elektronischen Szene.
Marie Staggat hat selbst als Türsteherin im Tresor gearbeitet. Vor fünf Jahren veröffentlichte sie einen Band über Detroits Musikszene („313ONELOVE“). Stein arbeitet für verschiedene Zeitungen und Magazine. Sehr erfreulich ist, dass die Erlöse aus ihrem Buch den Berliner Clubs zugutekommen.
Die Fotografien sind eindrücklich, es sind Charakterbilder. Den menschenleeren Orten ist so gut wie immer anzusehen, mit wie viel Liebe zum Detail, mit welchem Geist, welcher Attitüde sie entstanden sind. Die Bilder ziehen den Betrachtenden in die Räume, es ist, als lehne man am Pfeiler neben dem Dancefloor im Ritter Butzke mit Blick auf die Holzvertäfelung, als schaue man selbstvergessen auf die vielen an der Decke baumelnden Spiegelkugeln in der Wilden Renate, als stehe man auf der Terrasse der Paloma Bar und blicke auf das schöne, schillernde, schäbige Kreuzberg 36 da draußen.
Die journalistischen Interviews und Porträts dagegen verdeutlichen, was die Clubs den Betreiber:innen, DJs, Booker:innen und allen anderen Mitarbeiter:innen bedeuten: alles. Oder fast alles. „Ich hänge natürlich unglaublich an dem, was ich mache. Es wäre schon extrem schwierig, sich ganz neu zu orientieren. Noch kann man ein bisschen durchhalten, irgendwie. Die Kosten aber steigen weiter, und es geht an die privaten Reserven“, sagt Tom Clark vom Club Anita Berber im Interview.
Finn Johannsen, der das Booking im Club Paloma macht, beschreibt den Shutdown von vor einem Jahr als Schockmoment: „Quasi alles, was ich beruflich mache, hängt mit Clubkultur zusammen. Ich lege schon seit über 30 Jahren auf, schreibe über Musik, betreibe ein Label und arbeite als Booker. Es war schon erschütternd, festzustellen, wie fragil der eigene Lebensentwurf sein kann.“
Im Gespräch mit den Menschen, die hinter den Veranstaltungsorten stehen, fallen häufig die Worte „Familie“ „Gemeinschaft“ und „Zuhause“, wenn sie ihren Club beschreiben. Oder auch: Orte, an denen sie sie selbst sein können.
Was wird aus diesen Locations werden? Werden sie überleben? Diese Frage steht in „Hush“ immer im Raum. Mit jedem Club, den Berlin verliert – das zeigt dieser Band –, verliert die Stadt ein Stück kulturelle Identität. Denn die Unterschiedlichkeit der Nachtleben-Entwürfe bildet „Hush“ auch ab: Während das Tresor einen in eine Fritz-Lang- und Kraftwerk-Ästhetik (in doppeltem Sinne) führt, gleicht der Neuköllner Klunkerkranich eher einem Abenteuerspielplatz für Erwachsene, das Sameheads dagegen einem anarchistischen Gesamtkunstwerk.
Ganz davon abgesehen, sind Clubs in Berlin natürlich ein Wirtschaftsfaktor, eine relevante Branche. Die 226 Clubs in der Stadt stemmen zu normalen Zeiten über 70.000 Veranstaltungen im Jahr, rund 9.000 Voll- und Teilzeitstellen hängen an der Clubkultur (laut der Clubcommission-Clubkultur-Studie 2019).
Vor allem im Textteil dieses Bands gibt es schon auch Schwächen. Die Geschichten und Aussagen gleichen sich etwas zu sehr. So manch andere Story hätte, wenn man sie denn wirklich erzählen will, mehr Platz gebraucht. So entsteht der Eindruck, man habe alles abdecken wollen, werde den Themen dann aber nicht gerecht. Am Ende gibt es gar noch ein schmales Interview mit einer Psychologin über die psychischen Auswirkungen der Krise. Auch ein Lektoratsdurchgang mehr hätte nicht geschadet, so hätte man ein paar Patzer und Längen vermeiden können.
Am Gesamteindruck ändert das nichts: Der Band „Hush“ vermittelt, was Clubkultur bedeutet. Er zeigt eine Szene, die darbt. Hoffentlich nicht mehr lange.
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