Digitale Musiksammlung: Mixtapes für die Massen
Besser als Algorithmen. Auf Followmusic stellt der DJ und Radiojournalist Paul Paulun handverlesene, experimentelle Musiksammlungen zusammen.
Dank der Covidpandemie boomt der Streaming-Markt: Nicht nur Netflix hat wohl auch dank Covid und den damit verbundenen Quarantänemaßnahmen im letzten Jahr weltweit 35 Millionen neue Abonnenten gewonnen. Auch die Musikstreamingdienste wachsen rasant: Spotify hat im vergangenen Jahr 30 Millionen neue Hörer dazubekommen, was einem Wachstum von 30 Prozent entspricht. 2020 hört der durchschnittliche Kunde eines Musikstreamingdienstes täglich 148 Minuten Musik – allerdings oft genug wohl immer dieselbe.
Denn obwohl diese Dienste Empfehlungsalgorithmen entwickelt haben, die ihren Nutzern neue Musik nahebringen sollen – wer einen etwas ungewöhnlicheren Musikgeschmack hat, der sich nicht auf bestimmte Genres reduzieren lässt, ist oft enttäuscht, wenn er bei Spotify in die Rubrik „Genau Deine Musik“ oder „Dein Mix der Woche“ guckt. Statt musikalischen Neuentdeckungen wartet hier oft nur ein Nummer-Sicher-Programm aus Wellness-Klängen und Autofahrer-Beschallung.
Paul Paulun will seine Hörer mit Musik konfrontieren, die sie nicht kennen, der sie sich aber auf ihnen vertrauten Wegen nähern können. Auf Followmusic, der Website des DJs und Radiojournalisten, finden sich 24 Mixe – die Zahl nimmt beständig zu –, mit denen man ausgehend von individuellen Vorlieben Neuentdeckungen im Bereich der experimentellen Musik machen kann.
Dafür hat er die 25.000 Stücke seiner digitalen Musiksammlung zunächst in Playlisten nach seinem höchstpersönlichen System geordnet, aus denen er dann etwa 50-minütige Programme zusammenstellt. „Die algorithmische Vermittlung von Musik funktioniert für mich überhaupt nicht“, sagt er über Streamingdienste wie Spotify. „Außerdem bin ich überrascht, wie wenig die im Avantgarde-Bereich haben. Bei Ambient sieht es etwas besser aus, aber auch da fehlen von zehn wichtigen Platten drei.“
Widerspenstig, aber sympathisch
Sympathischer ist ihm da die Musikauswahl, die im legendären Internetarchiv Ubuweb zu finden ist. Aber diese Form der Archivierung nach Genres und Musikernamen findet er „widerspenstig“. „Ich will das Archiv nach draußen bringen und andere Herangehensweisen finden, mit denen man Musik entdecken kann.“
Bei Followmusic funktioniert das so: Wer sich zum Beispiel für Ambient-Musik interessiert, hat die Wahl zwischen Mixen mit Titeln wie „Flokati“, „Misty“ oder „Perpetual Drift“ – Begriffe, die zwar nicht gerade die Namen kanonischer Subgenres sind, aber einen intuitiven Zugang erlauben.
Alternativ sucht man in einer alphabetischen Liste von Musikern und Komponisten nach bekannten oder verehrten Namen und wird vom Eintrag von Terry Riley zu einer Kompilation mit Raga-beeinflusster Musik verfrachtet, in der auch Stücke von der deutschen New-Wave-Band S.Y.P.H und von der Kraftwerk-Vorgängerband Organisation zu finden sind – auch das keine offensichtlichen Kombinationen, aber ihr Zusammenhang erschließt sich beim Hören bald.
Im Grunde sind die thematisch, aber höchst idiosynkratisch kombinierten Musiksammlungen die zeitgenössische Version der Kassettenkompilation, die einem einst musikbesessene Freunde mit ihrem Rekorder zusammenstellten. So soll der Zuhörer in Klangräume eingeführt werden, die ihm sonst verschlossen blieben.
Musik für Neugierige
„Das ist nicht Musik für jeden oder jede“, sagt Paulun, „sondern für Leute, die neugierig sind.“ Dafür hat er sogar Teile seiner Plattensammlung selbst digitalisiert – entweder, weil es diese Musik vorher schlicht nicht in digitaler Form gab, oder weil die Dateien, die im Umlauf waren, nicht seinen Qualitätsvorstellungen entsprachen. „Das Material bei Ubuweb ist zum Teil über ein Jahrzehnt alt. Hier Musik zu entdecken ist zwar eine Freude, aber das Hören ist oft nicht so eine Freude.“ Inzwischen hat man bei Ubuweb sogar schon alte Audiodateien durch die ersetzt, die Paulun erstellt hat.
Im öffentlich-rechtlichen Radio haben solche gewagten Kombinationen kaum noch eine Chance. Während einst Radio-DJ-Legenden wie John Peel oder Klaus Walter vollkommene Freiheit hatten, ein wildes, undogmatisches Programm zu spielen, und diese Freiheit auch nutzten, sieht er die deutschen Sender der Gegenwart mit dem „Immergleichen“ beschäftigt. Seine Mixe streamt er von der Plattform Mixcloud, die für ihre Kunden die Tantiemen der Künstler in den DJ-Mixen bezahlt, welche bei ihr erscheinen. So ist nicht nur sichergestellt, dass die Urheber eine faire Kompensation erhalten, sondern auch, dass Mixe nicht wegen Urheberrechtsverletzungen gelöscht werden.
So handverlesen die Auswahl der Musik auf seiner Site auch ist, so entspricht „Followmusic“ im Augenblick trotzdem noch nicht den Vorstellungen, die Paul Paulun langfristig verwirklichen will. Irgendwann soll es dem Zuhörer buchstäblich möglich werden, Musik, die ihm gefällt, zu folgen: „Wenn man in einem Mix ein Stück entdeckt, dass man gut findet, soll er aus meinem Erzählfluss aussteigen und sich in diese Richtung weiterbewegen können.“ Wie in einem Museum, in dem man sich als Besucher seinen eigenen Rundgang durch die Raumfluchten zusammenstellen kann, soll man sich dann durch die musikalischen Gattungen und Genres treiben lassen.
Allerdings müsse die technische Grundlage für derartige „Abschweifungen“ erst geschaffen werden. Paulun hat jetzt sogar ein Stipendium erhalten, um zu prüfen, ob es bei Institutionen mit großen Musiksammlungen Interesse gibt, alternative Zugangsformen für ihre Archive zu entwickeln. Zur dogmatischen Vorlesung in Form von Mixtapes sollen diese Methoden allerdings nicht führen. „Ich mag keine Kopfgeburten und keine Musik, bei der nur ein Konzept ausgeführt wird“, sagt Paulun. „Die Musik muss mich immer auch berühren.“
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