piwik no script img

Ein eigenes Versailles

Bemerkenswerter Zufallsfund: Der „Mecklenburgische Planschatz“ gibt mit architektonischen Zeichnungen Einblicke, wie und warum im ländlichen Mecklenburg im 18. Jahrhundert gebaut wurde. Nun ist ein 1.100 Seiten starker Katalog erschienen

Vorbildfunktion für das Landbauwesen: Johann Friedrich Künneckes Auf- und Grundriss eines Amts- oder Verwalterhauses, entstanden um 1730 Foto: Sandstein Verlag

Von Bettina Maria Brosowsky

Der Anspruch, sich ein eigenes Versailles zu errichten, trieb einst manchen Herrscher des Absolutismus um, auch im deutschen Norden. Im Braunschweigischen etwa war es Herzog Anton Ulrich, der zwischen 1688 und 1694 ein Lustschloss mit Barockgarten in Salzdahlum erbauen ließ, auf halbem Weg zwischen der Residenz in Wolfenbüttel und der 1671 unterworfenen Stadt Braunschweig. Von standesgemäß repräsentativer Optik, war der Schlossbau jedoch nur eine preiswerte, dem feuchten Terrain und der Witterung mäßig trotzende Holzkonstruktion. Die herzogliche Sommerfische musste so bereits um 1800 wieder aufgeben werden und wurde bis 1813 endgültig abgetragen.

Von soliderer Substanz war da zweifelsohne die bis heute bestehende, wuchtige Dreiflügelanlage des Schlosses Ludwigslust, errichtet durch die Herzöge von Mecklenburg-Schwerin, knapp 40 Kilometer südlich ihres Herrschaftssitzes, dem heutigen Landtag von Mecklenburg-Vorpommern in Schwerin. 1777 unter Herzog Friedrich fertiggestellt, diente Ludwigslust bereits seit 1762 als Ganzjahresresidenz und ab 1764 als dynastisches Machtzentrum; Regierungsämter verblieben aber in Schwerin.

Zirkulierende Vorbilder

Dem Schloss ist eine repräsentative städtebauliche Anlage vorgelagert, mit Wasserkunst, einem runden sowie einem zweiten, quadratischen Rasenplatz, in dessen axialem Endpunkt die protestantische Kirche liegt – Ausdruck der auch kirchenleitenden Machtfülle des weltlichen Herrschers. Nördlich der Residenz erstreckt sich ein ehemals barocker Park, der Mitte des 19. Jahrhunderts vom preußischen Gartenarchitekten Peter Joseph Lenné als englischer Landschaftsgarten erweitert wurde.

Wie aber prägten sich, über Landesgrenzen hinweg, architektonische und städtebauliche Leitbilder aus, wie die Vorstellungen höfischer Wohnkultur und aktueller Gartenkunst? Wie zirkulierten zeittypische Ideen, welche Quellen standen den Herr­sche­r:in­nen zur Verfügung? In Zeiten noch ohne auflagenstarke Medien muss es jenseits der Vorort-Augenscheinnahme – etwa im Zuge einer auf die Regentschaft vorbereitenden, oft mehrjährigen Grand Tour zu klassischen und zeitgenössischen Stätten der Baukunst – auch Text- und Bildmaterial gegeben haben, das als Vorbildsammlung stilprägend dienen konnte.

Ungleich interessanter: Wie stand es um einen zivilen Bausektor, um Bauten für Landwirtschaft und Handel, um Stadtbau, Wohnen, Straßen, Brücken? Existierten in den vielen kleinen deutschen Territorialstaaten Bauadministrationen, gar mit Ausbildungswesen, die in der Lage waren, aus vielleicht sporadisch oder bruchstückhaft eintreffenden Informationen ihren eigenen, regionaltypischen Kanon für Bauten und Infrastruktur zu entwickeln?

Einige Antworten und exemplarische Aufschlüsse zu Qualität, Anlass und Rezeption architektonischer Zeichnungen während des 18. Jahrhunderts vermag ein Zufallsfund aus der Landesbibliothek Schwerin zu geben. 2010 stieß die Kunsthistorikerin Sigrid Puntigam bei Recherchen zum Schloss Ludwigslust auf ein verloren geglaubtes Konvolut von etwa 300 europäischen Architekturzeichnungen, aufwendigen Präsentationsblättern, sogenannten „Appetitrissen“, Kupferstichen und baubezogenen Schriftstücken – ein buntes Sammelsurium in einer Schatulle, wie sie es ausdrückt. 2012 fand sich eine weitere Mappe mit sowohl zeitlich als auch inhaltlich zum ersten Fundteil passenden Plan- und Stichmaterial, sodass sich daraus der „Mecklenburgische Planschatz“ mit knapp 550 Blättern rekonstruieren ließ. Er gehörte einst zur herzoglichen Bibliothek in Ludwigslust, die auch rund 270 Traktate zur Architektur zählte.

Verflechtung des Bauens

Eine Tagung zu ersten Erschließungsergebnissen des Planmaterials folgte 2015, drei Jahre später die Ausstellung „Schatz entdeckt!“ im Staatlichen Museum Schwerin, die zentrale Fundstücke präsentierte. Nun liegen sowohl ein kompletter Bestandskatalog als auch 24 Forschungsbeiträge in einem zweibändigen, zusammen über 1.100 Seiten starken Werk vor. Zugegebenen: Die gesamte Lektüre setzte ein sehr spezielles Interesse voraus, aber auch ein kursorischer Zugriff gestattet Einblicke in Aufgaben, Organisation und überregionale Verflechtung des Bauens im 18. Jahrhundert.

Das Bauen, nicht nur einer Residenz, war meist persönliche Sache eines Herrschers. Besonders aber Herzog Friedrich von Mecklenburg-Schwerin (1717–1785), genannt der Fromme, sah sich als entwerfender „Architekten-Herzog“, er ließ sich mehrfach mit Architekturzeichnungen, technischem Gerät oder einem Stichwerk Piranesis in der Hand porträtieren. Er verzichtete auf die kostspielige Einrichtung eines Museums wie am Hofe Hessen-Kassels, auf Ballett- und Theaterensembles wie in Württemberg oder eine Hofjägerei. Konsequent sparte Friedrich auch bei der Innenausstattung in Ludwigslust: Anstelle teurer Materialien wurden Marmorflächen, Ornamente, Stuck und Zierleisten, selbst vollplastische Skulpturen durch bemaltes Papiermaché imitiert. Gefertigt von der „Ludwigsluster Carton-Fabrique“ galt für höfischen Zierrat also das Upcycling alter Akten.

Traum von Versailles, Variante Braunschweig-Wolfenbüttel: Zeichnung des Lustschlosses von Herzog Anton Ulrich in Salzdahlum Foto: Public Domain/Wikimedia Commons

Hatte seine Grand Tour ab 1737 ihn zwar nicht ins ersehnte Italien gebracht, lernte Herzog Friedrich dafür in Frankreich nicht nur prunkvolle Adelspaläste, Gärten, Wasserkünste und Kirchenbauten kennen, sondern wohl auch eine leistungsfähige Bauverwaltung. Diese Umstände schlugen sich in Plansammlung wie Bibliothek nieder, konkreten Interventionen in Ludwigslust sowie der Installation eines Hof- und des eigenständigen Landbauwesens mit entsprechender personeller Besetzung, auch für Landvermessung, Brücken-, Maschinen-, Wasser- und Wegebau.

So widmet sich ein kleiner, aber hochinteressanter Teil des Planschatzes gerade diesen, in einer heroischen Architekturgeschichtsschreibung entlang höfisch-klerikaler Prachtbauten stets marginalisierten Bauaufgaben von jedoch elementarer ökonomischer Bedeutung, gerade für ein bescheidenes Agrar­land wie Mecklenburg.

Aufwertung des Ländlichen

Das Spektrum reicht von Plänen kompletter bäuerlicher Hofanlagen über Entwürfe für Gutshäuser, Stallungen, Scheunen, Versorgungsgärten oder eine Wassermühle bis zu Fachwerkkonstruktionen für Hallendächer, Brückenbauten und Katasterblättern. Vieles lässt sich nicht lokalisieren oder konkreten Baumaßnahmen zuschreiben: Die Blätter hatten wohl allgemeingültige Vorbildfunktion für das Landbauwesen oder dienten als Lehrsammlung, selbst wenn im Mecklenburgischen an eine eigene Bauakademie nicht zu denken war.

Aber selbst diese zweckfreie, vielleicht zufällige Sammlung spiegelt eine Aufwertung des Ländlichen wider, ganz im Sinne der sich bereits seit dem 17. Jahrhundert bahnbrechenden britischen „Gartenrevolution“. Die Endphase der kontinentaleuropäischen Anciens Régimes begleitete also die geistig ästhetische Eroberung der Natur: Die befreite Landschaft, in der das Leben und Wirken freier Menschen als auch baukulturell wertzuschätzender Bestandteil gewürdigt gehört.

Der Mecklenburgische Planschatz. Architekturzeichnungen des 18. Jahrhunderts aus der ehemaligen Plansammlung der Herzöge von Mecklenburg-Schwerin. Sandstein Verlag Dresden, 2020, Essays + Katalog im Schuber, 1.124 Seiten, 1.300 überwiegend farbige Abbildungen, 98 Euro

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen