Erinnerungen an die Arbeiterkindheit: Männer, an denen ich vorbeilaufe
Die Männer, die morgens vor dem Bäcker stehen, erinnern mich an Kollegen meines Vaters. Warum traue ich mich nicht mehr, mich einfach dazuzustellen?
Wenn ich morgens meine Wohnung verlasse, weil ich in die Redaktion möchte, dann laufe ich an einem kleinen Bäcker in meiner Straße vorbei, vor dem Männer im mittleren Alter stehen und sich unterhalten. Manche tragen einen Blaumann oder andere Arbeitskleidung mit weißen Farbflecken. Die meisten haben einen Schnurrbart. Alle halten papierne Kaffeebecher in der Hand.
Beim Vorbeigehen schnappe ich mal Wortfetzen, mal ganze Sätze auf. Sie sprechen in anatolischtürkischdeutschem Jargon über Bekannte („Memo hat ein neues Auto gekauft …“), ihren Kiez („Diese Baustelle da hinten …“), Fußball („Die haben gut gespielt …“), Arbeit („Ahmet bedient die Maschine falsch …“), Politik („Hast du gehört, was Macron gesagt hat? …“).
Immer wenn ich an ihnen vorbeilaufe, verspüre ich den Impuls, mich einfach dazuzustellen. Die Männer erinnern mich an meinen Vater und an seine Arbeitskollegen, die ich als Kind im türkischen Teehaus getroffen habe oder im Moscheeverein, wenn mal wieder ein Istanbul-Derby ausgetragen wurde. Ich saß zwischen ihnen, einer von ihnen schenkte mir Tee ein, ein anderer servierte mir einen Toast mit Sucuk, der türkischen Knoblauchwurst. Sie amüsierten sich über meine Ernsthaftigkeit beim Fußballschauen, aber sie trösteten mich auch, wenn Beşiktaş in den schwarz-weißen Trikots das große Derby mal wieder verloren hatte.
Später, als Teenager, traf ich sie in Wettbüros und Spielhallen – auch Treffpunkte migrantischer Arbeiter. In den dunklen Räumen hingen große Flachbildfernseher an den Wänden, auf denen mehrere Fußballspiele gleichzeitig liefen und Wettquoten laufend aktualisiert wurden. Die Kollegen meines Vaters fragten mich hier, wer wohl dieses und jenes Spiel gewinnen würde, sie verwickelten mich in endlose Fußballdiskussionen. Einer von ihnen gab mir immer eine Cola aus. Als Kind und auch als Jugendlicher habe ich viel Zeit mit meinem Vater und seinen Kollegen verbracht. Irgendwann werde ich auch so wie die, habe ich gedacht, obwohl ich schon wusste, dass ich anders werden muss.
Die Illusion, dass ich dazugehöre
Heute stehen Männer wie sie frühmorgens vor dem Bäcker in meiner Straße und ich laufe an ihnen vorbei. Und ich traue mich nicht, mich einfach dazuzustellen. Vielleicht weil ich die Illusion nicht gefährden möchte, dass ich dazugehöre. Vielleicht brauche ich diese Illusion, weil ich fürchte, nie richtig in der anderen Welt anzukommen, in der ich mich heute bewege.
Vielleicht denke ich zu viel darüber nach, während sich die Männer bestimmt nichts denken würden, würde ich mich zu ihnen stellen. Als mein Vater mich einmal besucht hat, ging er am ersten Morgen Brötchen besorgen. Auf meiner Straße lernte er alle möglichen Menschen kennen. Er stellte sich einfach dazu. Abends erzählte er mir dann, dass dieser eine Bäcker da besser sei als der andere um die Ecke. Der gute Bäcker, das ist der, vor dem die Männer stehen, die mich an ihn erinnern.
Leser*innenkommentare
Markus Michaelis
Wer gehört denn heute noch zu einer Welt? Und welcher Welt, wenn sich alles laufend ändert? Was könnte ein Beispiel dafür sein, dass einen Satz "ich gehöre da dazu" rechtfertigen würde, in dem Sinne dass dieses "da" ausreichend scharf definiert ist und eine ausreichende zeitliche Konstanz hat, so dass ein solcher Satz Sinn ergäbe?
Das gilt natüelich nicht für kleine private Ecken - auch da verändert sich oft viel, es gibt aber auch viele stabile Beispiele. Aber von einer "Welt" zu der man gehört (dauerhaft und klar), gibt es glaube ich nicht soviele Beispiele.
92489 (Profil gelöscht)
Gast
@Markus Michaelis Schönstes Beispiel für eine Welt zu der man dazugehört ("dauerhaft und klar" wobei ich diese Voraussetzungen für Blödsinn halte): Das Weltall.
92489 (Profil gelöscht)
Gast
@Markus Michaelis "Da" lässt sich doch problemlos anhand irgendwelcher Kriterien beschreiben und die Dauer spielt keine Rolle. Unscharf ist "richtig ankommen".
Markus Michaelis
@92489 (Profil gelöscht) Naja. Der Auto meint denke ich soetwas wie: ich gehöre zu den Deutschen, den Münchnern, den Katholiken, den Kletterern, der CDU, den Bergfreunden ... irgendsowas. Natürlich gibt es das Zugehörigkeiten, keine Frage. Aber alle diese Dinge ändern sich laufend, so dass für alle Menschen, die sich da irgendwo zugehörig fühlen immer auch (bis auf kurze Phasen) die Frage stellt, ob man noch dazugehört (und zu was genau, weil sich die Gruppe schon wieder geändert hat). Auf diese Gefühle will der Autor denke ich anspielen - die halte ich für omnipräsent. Zumindest in allen Gruppen, die sich nicht radikal in ihre eigene Welt abkoppeln (was kaum geht).
kditd
Ich möchte viel dazu sagen, aber ich sag einfach mal: Ganz guter Artikel.
90946 (Profil gelöscht)
Gast
@kditd Geht mir auch so.
Und übrigens immer wieder bei Herrn Agars Kolumnen.
Wirklich, ganz gut getroffen in Ton und Bild (schnief...)