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Wijk aan Zee liegt direkt neben einer Stahlfabrik von Tata Steel an den Dünen Foto: Henny Boogert

Dorfbewohner neben StahlwerkSchlechte Nachbarschaft

Wijk aan Zee liegt am Fuß der nordholländischen Dünen. Über Jahrzehnte haben die Dörfler Gift und Staub still hingenommen. Aber jetzt reicht es ihnen.

D er Weg auf die Spitze der Paasduin ist beschwerlich. Hoch ragt die steilste Dünenreihe über den südlichen Rand des Dorfs. Der Sand unter den Füßen gibt nach, der Wind brüllt. Doch dann dieser Ausblick: Man ist geneigt, zu sagen, er entschädigt für alles. Das stürmische Meer, die Mündung des ­Nordseekanals, und gleich daneben ein ­kolossales schwer­industrielles Panorama, das den Begriff „rauchende Schlote“ neu zu definieren scheint. Bei Sonnenschein kann das surreal aussehen. Bei grauem Himmel wirkt es apokalyptisch.

Das Industriegelände gehört dem Stahl­giganten Tata Steel. Das größte zusammenhängende Industriegelände der Niederlande umfasst auf 750 Hektar unter anderem zwei Hochöfen, zwei Koksfabriken, eine Sinter- und eine Oxystahl­fabrik. Zusammengerechnet produzieren sie rund 7 Prozent des CO2-Ausstoßes der Niederlande, einen der höchsten industriellen Emissionsanteile des Landes. Dazu kommen grafithaltiger Regen und ein gewaltiger Feinstaub- und ­Stickstoffausstoß. Diese Erscheinungen haben das 2.000-Seelen-Dorf Wijk aan Zee, 30 Kilometer nordwestlich von Amsterdam gelegen, überregional bekannt gemacht. Aber es ist nicht die Art von Bekanntheit, die man sich als Dorfbewohner wünscht.

Sabine van Otterloo ist zehn Jahre alt, als sie Mitte der 1980er mit ihren Eltern hierherzieht. Die Familie übernimmt ein Hotel mit dem Namen „Mare Sanat“, übersetzt „Das Meer heilt“. Doch ganz so förderlich für die Gesundheit ist die neue Umgebung nicht. Ihre beste Freundin erzählt, dass die Grundschulkinder kurz vor Sabines Ankunft Tests absolvieren mussten: Radfahren mit einer Atemmaske, um die Lungenfunktion zu messen. Die kleine Sabine ärgert sich, dass sie das verpasst hat. Van Otterloo lächelt gequält, wenn sie von ihrer ersten Erinnerung in Wijk aan Zee spricht.

Aufgewachsen auf der Pferdekoppel – die Fabrik nebenan

Die Geschichte der Hotelierstochter ist bezeichnend für dieses Dorf, das auf den ersten Blick etwas spröde und just darum überaus charmant wirkt. Kommt man über den einzigen Zufahrtsweg nach Wijk aan Zee, findet man die paar Straßen des Zentrums um eine große Wiese herum drapiert. Niedrige braune Backsteinhäuser lehnen sich an dahinter aufragende Dünen. Es hat etwas von einem englischen Minenstädtchen, das sich an die Nordsee verirrt hat. „Ich hatte eine prächtige Jugend hier“, sagt Sabine van Otterloo, die heute 44 ist und im Hotel der Eltern arbeitet. „Ich wuchs mit Pferden auf, am Strand und im Wald. Wir spielten in Baumhütten und den Bunkern des Atlantikwalls.“

Die Schattenseite der Idylle zeigt sich, als sie, inzwischen eine junge Erwachsene, körperliche Beschwerden entwickelt. Ihre Augen jucken und tränen. Der Arzt verschreibt Tropfen, die nicht helfen. Dazu kommen mehrmals im Monat starke Kopfschmerzen, die manchmal zwei, drei Tage lang anhalten. „Aber am schlimmsten ist der Gestank. Den haben wir sehr oft. Manchmal nach faulen Eiern, manchmal nach Koks, von der Fa­brik. Und dann ist da der Lärm. Oft klingt es, als ob sie stählerne Gegenstände in eine Wanne werfen. Im Sommer kann man nicht bei offenem Fenster schlafen.“

Lange nimmt Sabine van Otterloo diese Situation hin. Erst in den letzten Jahren bringt sie ihre eigenen Probleme mit der Stahlfabrik in Verbindung. Seit 2016 geht immer häufiger ein sogenannter Grafitregen über Wijk aan Zee nieder. Er enthält Schlackenteile, die auf Fensterbänken, Autos, Wänden, aber auch auf Spielplätzen als schmierige, schwarze Staubschicht ­zurückbleiben.

Seit diesem Sommer ist die Fabrik, in der Stahlabfälle verarbeitet werden, mit einer neuen Halle überdeckt. Glaubt man Tata Steel, ist das Grafitproblem damit gelöst. Schwarzer oder dunkelgrauer Staub allerdings, den der Südwestwind mitbringt, gehört für die Menschen hier noch immer zum Alltag. Sabine van Otterloo findet ihn regelmäßig auf dem Vorsprung neben ihrer Haustür oder auf der weißen Nase ihres Pferdes, das mit einigen anderen Tieren auf der Wiese am Dorfeingang steht.

Hans Dellevoet: „Wir sind im Kampf gegen einen Nachbarn, der sich an gar nichts hält.“ Foto: Henny Boogert

Die Bezeichnung „Grafitregen“ finden viele der Dörfler eher beschönigend. Untersuchungen des staatlichen niederländischen Gesundheitsinstituts RIVM ergeben 2019, dass darin polyzklische aromatische Kohlenwasserstoffe, abgekürzt PAK, ebenso enthalten sind wie Blei, Mangan und Vanadium, die vor allem für junge Kinder gefährlich sind. Eine Untersuchung vom Sommer 2020 konstatiert, dass die Konzentration der potenziell krebserregenden PAK im Vergleich zum Vorjahr um mehr als 360 Prozent gestiegen sei. Auch die Bleikonzentration der entnommenen Staubproben habe zugenommen.

Die Liste der ausgestoßenen Gifte ist lang. 2018 bemängelt der staatliche Inspektionsdienst, dass der Ausstoß von Stickstoffoxiden über dem Grenzwert liegt. Im Juni 2020 wird in Schlackebergen auf dem Tata-Gelände nahe einem Radweg zum Strand Chrom-6 gefunden. Einen Monat später macht das RIVM bekannt, dass an drei Messpunkten im Umfeld der Fabrik deutlich erhöhte Konzen­trationen von Ultrafeinstaub festgestellt wurden. Das regionale Gesundheitsamt warnt, das Lungenkrebsrisiko liege in der Kommune Beverwijk, zu der Wijk aan Zee gehört, um 27 Prozent über dem niederländischen Durchschnitt.

„Mein Kind hat nur ein Paar Lungen“

All dies steht in einem Brief, den eine Gruppe namens „Besorgte (Groß-) Eltern“ im Spätsommer letzten Jahres an die Abgeordneten ihrer Provinz Nordholland schicken. „Schon seit gut einem ­Jahrhundert leben wir hier zusammen mit der Stahlindustrie“, heißt es dort. Dass diese lebensbedrohend sei, hätte man lange nicht wahrgenommen, weil der Staat seine BürgerInnen doch zu schützen habe. „Seit den Grafitregen wissen wir es besser.“

Sabine van Otterloo hat sich den „Besorgten Eltern“ angeschlossen. Im September gehört sie zu der Gruppe, die eine Kundgebung auf der Dorfweide organisiert. Knapp 500 Stühle stehen dort, für all jene, die den Aufruf unterzeichnet haben. Aufgrund der Coronapandemie werden nur 50 davon besetzt. Auf den übrigen liegen Zettel mit Botschaften der Unterzeichner: „Mein Kind hat nur 1 Paar Lungen“ steht darauf, oder „Stoppt die Vergiftung von Wijk aan Zee“.

Sabine van Otterloo: „Du weißt nie genau, was du einatmest.“ Foto: Henny Boogert

Die Forderung an die Politik ist deutlich: Untersuchungen habe es genug gegeben, nun ist es Zeit zum Handeln. Sabine van Otterloo denkt dabei an ihre eigenen Kinder. 18 und 9 Jahre sind sie, das jüngere ist also fast so alt wie sie damals, als sie hierherzog. „Man weiß ja nicht, wie sich das auswirkt. Damals hatte ich auch noch keine Beschwerden“, sorgt sie sich. Überhaupt macht ihr die Unwägbarkeit der Situation zu schaffen. „Am unheimlichsten finde ich eigentlich, dass in den Untersuchungen so viele schädliche Stoffe gefunden wurden, aber du nie genau weißt, wann du eigentlich was einatmest.“

Es ist etwas Eigenartiges mit diesem Ort. Wer hier wohnt, ist meist fest mit ihm verbunden, und ihm damit in gewisser Weise ausgeliefert. Wie sehr, zeigt sich mitten in der Nacht. Wenn Wijk aan Zee schläft, geht bei Tata der Betrieb weiter – und wie! Im Halbkreis rauchen die Schornsteine vor sich hin, hell heben sich ihre Emis­sio­nen gegen den Himmel ab. Rote Signallichter leuchten nahe den Hochöfen, und über der Szenerie hängt ein beständiges Dröhnen und dumpfes Surren. Im Kessel zwischen den Dünenzügen breitet sich beißender Gestank aus. Er bleibt in den Wohnungen hängen, auch wenn Fenster und Balkontüren geschlossen sind.

Wijk aan Zee entdeckt seine Wehrhaftigkeit

Nun aber scheint es, als habe Wijk aan Zee seine Wehrhaftigkeit entdeckt. Davon zeugt die Versammlung des Dorfrats Mitte November, die dieses Mal virtuell stattfindet. 15 Mitglieder haben sich von zu Hause aus zugeschaltet. Zwei Stunden dauert das Treffen, und das Gros der Zeit geht es um Tata Steel: Emissionen, Lungenkrebsrisiko, das nachlässige Melden von Vorfällen wie einem Brand.

„Seit einigen Jahren geht das so“, erklärt Hans Dellevoet, der sich seit 13 Jahren im Dorfrat um Raumordnung kümmert. „Eigentlich müssten wir uns mit Spielplätzen und Bordsteinen beschäftigen, wie ein normaler Dorfrat. Stattdessen stehen wir in diesem Kampf mit einem Nachbarn, der sich an gar nichts hält und uns vergiftet.“ Der 55-jährige Pilot empfängt den Reporter in seinem Haus an der Dorfweide, gleich unterhalb der großen Düne.

Auch auf seinen Fensterrahmen liegt eine dunkle Schicht Staub. Alle zwei bis drei Wochen macht Hans Dellevoet derzeit Gebrauch von dem Reinigungsdienst, den Tata Steel kostenlos bereitstellt und der jeden Morgen Spielplätze und Briefkästen säubert. Manchmal kommt das Reinigungsteam kaum hinterher. „Letzten Montag waren sie hier. Als ich Sonntag von meinem letzten Flug zurückkam, lag da schon eine neue Schicht.“ Doch Dellevoet hat jetzt eine Hoffnung: Im Herbst kündigt die Staatsanwaltschaft an, sie werde Tata Steel wegen Verletzung der Umweltauflagen, wonach sich der freigesetzte Staub nicht weiter als zwei Meter vom Gelände entfernt niederschlagen darf, verklagen.

„Was seid Ihr für schreckliche Essigpisser. Zieht doch woanders hin!“

Anonymer Facebook-Eintrag an Hans Dellevoet

Nicht alle in Wijk aan Zee begrüßen diese Entwicklung. Die Fabrik, 1918 als Koninklijke Hoogovens gegründet, 1999 mit British Steel fusioniert und 2007 durch den indischen Konkurrenten Tata übernommen, ist als wichtiger Arbeitgeber für viele Alteingesessene Teil der Identität. „Auf Social Media versucht man, uns einzuschüchtern. Hier zum Beispiel.“ Hans Dellevoet öffnet ein Facebook-Forum und zitiert einen Text, der sich an Zugezogene wie ihn richtet: „Was sind diese Import-Wijk-aan-Zeer für schreckliche Essigpisser. Zieht doch woanders hin!“

Auch Jan van Kampen hat diese Wut zu spüren bekommen, ein Computerwissenschaftler, der all seine 29 Lebensjahre in Beverwijk verbracht hat. Als Kind hätten ihn die Eltern angehalten, den Tisch vor dem Haus nicht zu lang vor dem Essen zu decken, wegen der schwarzen Flöckchen, die herüberwehten. Doch van Kampen weiß um die wirtschaftlichen Abhängigkeiten: „Jeder hat ein Familienmitglied, das bei Tata Steel arbeitet. Und mein Vater merkt es in seinem Juweliergeschäft, wenn dort das 13. Monatsgehalt ausgezahlt wurde. So ist das hier.“

Im Dezember 2018, auf dem Höhepunkt der Grafitregen, stellt van Kampen mit zwei Kollegen die Website stofmelder.nl online, auf der Anwohner Beschwerden über Emissionen, Gestank und Lärm melden können. Meldungen gehen bis heute täglich ein. „Rund 3.000 haben wir bisher abgehandelt“, sagt Jan van Kampen, der Wert darauf legt, dass es hier nicht um Aktivismus gehe, sondern um Analyse und verlässliche Daten.

Jan van Kampen: „Jeder hat ein Familienmitglied, das bei Tata Steel arbeitet.“ Foto: Henny Boogert

Trotzdem empfängt er des Öfteren Bedrohungen von falschen Accounts – meist dann, wenn seine Website in den Medien zitiert worden ist. „Wenn ich du wäre, würde ich mich öfter umschauen, wenn du abends über die Straße gehst“, heißt es da, oder eindeutiger: „Wenn ich dich treffe, schlag ich dir den Schädel ein.“ Zweimal hat er schon Absender als Tata-Mitarbeiter identifizieren können. Schlaflose Nächte bereiten ihm die Bedrohungen inzwischen nicht mehr. Sorgen macht er sich aber schon.

Die niederländischen Medien haben das Dorf mit der ungewöhnlichen Umweltbelastung entdeckt. Wijk aan Zee wird im November Aufmacher des TV-Nachrichtenmagazins „1Vandaag“, das zusammen mit der Regionalzeitung Noordhollands Dagblad die Lungenkrebshäufigkeit nach Postleitzahlen untersucht hat. Fazit: in manchen Gebieten liegt das Risiko um 40, 46 oder gar 51 Prozent höher als im Durchschnitt.

Ein Tata-Sprecher kommentiert das so: „Es geht hier nicht um neue Fakten: bereits vorhandene Zahlen wurden nur auf andere Weise dargestellt.“ Weiter betont er, die Untersuchungen gingen nicht auf die Ursache des erhöhten Risikos ein. Er verweist auf einen internen Maßnahmenkatalog, mit dem Tata Steel bis zum Jahr 2030 mit technischen Eingriffen „alle Quellen von Belästigung deutlich vermindern“ will. Und er empfiehlt einen Beitrag des Lokalsenders NH Nieuws, in dem Bewohner des nahen Städtchen Bever­wijk versichern, sie würden niemanden mit Lungenkrebs kennen und dass es ohne die Stahlfabrik keinen Wohlstand geben würde.

Die Provinzregierung ist unter Zugzwang. In den nächsten Wochen will sie eine Beschwerdestelle in Wijk aan Zee eröffnen, um schnell auf Klagen reagieren zu können. Das Programm „Tata Steel 2020–2050“ sieht eine strengere Aufsicht vor und will die Umweltauflagen „strenger handhaben“. Zudem wolle man „Luftqualität, Geruch und Geräusche und ihren Effekt auf die Gesundheit kontinuierlich messen“ und notfalls mithilfe der niederländischen Regierung und der EU härtere Auflagen erwirken. Bei Tata Steel scheint das angekommen zu sein: Im Dezember kündigt das Unternehmen an, kurzfristig 300 Millionen Euro zu investieren, um schädliche Emissionen zu reduzieren.

In diesem Pandemiewinter wirkt Wijk aan Zee noch stiller als sonst. Die Straßen sind leer, die Snackbars geschlossen. Das Hotel Sonnevanck hat seine Musikabende ausgesetzt und verkauft am Aufgang zum Strand Kaffee und Kuchen zum Mitnehmen. Nur der Blick auf die Armada der rauchenden Schlote ist der gleiche geblieben. Ab und zu schiebt sich ein Frachtschiff über die letzten Meter des Nordseekanals in Richtung Meer.

Doch der Eindruck täuscht. Hinter den Fassaden der Häuser in Wijk aan Zee geht der Protest weiter. Der Pilot Hans Dellevoet nimmt in seinem Haus an der Dorfweide an einer virtuellen Versammlung des Provinzparlaments teil. Er wendet sich an Jeroen Olthof, in der Regierung zuständig für Umwelt und Gesundheit: „Was wird Jeroen Olthof in zehn Jahren sagen, wenn die hohe Krebssterblichkeit in der Region Thema einer parlamentarischen Untersuchungskommission ist? Dass er nicht wusste, dass es eine Folge der Luftverschmutzung war? Dass er nicht wusste, dass Tata Steel die weitaus wichtigste Quelle der Emissionen war? Dass seine Berater sagten, er könne nichts machen? Dass Tata Steel so wichtig war, dass dafür Menschenleben geopfert wurden?“

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