Die Wahrheit: Lorenzstrom
Philosophie im Lockdown: Gut, dass es hie und da noch eine Trinkhalle gibt. Und Schauspielerinnen ohne Termine, aber mit Verständnis.
W enn du durch die Straßen gehst, ist alles tot. Die Welt, derer wir bedürfen, um in ein lebendiges, zwangloses Verhältnis zu uns selbst zu treten, wurde abgeschafft. Wirklichkeit ist nichts mehr, von dem man unter der Voraussetzung der Kontingenz etwas empfängt, sondern das, was einwirkt – die perverse Bewahrheitung der Hegel'schen Erkenntnis, dass wirklich sei, was vernünftig ist, und dass vernünftig sei, was wirklich ist.
Seit Monaten bin ich auf der Flucht vor diesem Horror. Als die Temperaturen noch erträglich waren, haben wir uns abends in Mannschaftsstärke an einer Parkbank getroffen und mit Flaschenbier und Stonsdorfer der notwendigen Praxis der Sozialität gefrönt. Das vermochte auch der genialste OB in der Geschichte der Bundesrepublik, Herr Peter F., nicht zu unterbinden.
Dann zog ich mich in einen anderen Stadtteil zurück, um ziel- und hoffnungslos die Tage an der Seite der schönen Frau umzubringen. Sie ist eine grandiose, freischaffende Schauspielerin und hat seit März genau einen Auftrag gehabt.
Eines Vormittags gegen zehn fuhr mir ein Gedanke ins Genick. Ich sagte zur schönen Frau: „Ich geh jetzt runter zur Trinkhalle und trinke vier Bier.“ Die schöne Frau erwiderte: „Ich verstehe dich. Ich würde gerne mitkommen. Aber ich kann das nicht. Danach wäre ich noch trauriger.“
Freundliche Preise
Der Platz dort unten ist ein vergessener Ort. Das Büdchen führt Bier und Schnaps zu freundlichen Preisen. Unweit befindet sich eine Polizeiwache, doch deren Personal hat mehr im Viertel nebenan als hier zu tun. Rund um die schäbigen Holzbänke, in der oktroyierten Distanz zur Verkaufsstelle, standen etwa zehn Leute, die ich vom Sehen her, aber nicht bei ihren Namen kannte, die meisten ohne Zähne, Frisuren und Kleidung nicht in marktkonformer Form, gleichwohl allesamt in angenehmer Stimmung.
Ich gesellte mich am Rande hinzu. Ich wollte mich nicht aufdrängen, das traue ich mich erst mit dem sechsten Bier. Nach einer halben Stunde fand ich mich in einem Gespräch mit Lorenz wieder. Lorenz – „Ich bin Lorenz“ – ist sehr dünn, sammelt nachts Flaschen. Die Heizung für seine enge Wohnung kann er sich nicht leisten. Er wärmt seine Hände an einem Heizstrahler, den er einschaltet, solange es das Budget für die Stromrechnung nicht überschreitet.
Wir redeten, als sei das in dieser kaputten Stadt das Selbstverständlichste, über Walter Benjamin und Adorno. Wie wir darauf kamen, weiß ich nicht mehr. Lorenz zitierte frei Hand, stream of Gedanklichkeit.
Irgendwann fragte ich ihn nach seiner Adresse und seinem Nachnamen. Ich wollte ihm etwas per Post zukommen lassen. Er hatte erwähnt, dass, sollte er noch einmal eine beheizte Wohnung beziehen können, sein Traum sei, die Gesamtausgabe von Adorno im Regal stehen zu haben.
Sein Nachname sei Schaffernicht, sagte Lorenz. Auch das war und ist kein Witz.
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