: Endlich wieder über die Dörfer gehen
Es war verschwunden, jetzt ist es wieder da: das ausführliche Telefongespräch mit Freunden, Eltern, Geschwistern, Tanten und Onkels
Von Jan Feddersen
Statistische Erhebungen gibt es zu diesem Phänomen im Coronajahr keine; es sind auch keine zu erwarten – zu berichten ist aus diesem Jahr in dieser Hinsicht nur, dass viele davon berichten. Natürlich nicht: Pflegekräfte, Supermarktmitarbeitende, andere Menschen, für die der Arbeitsalltag wie immer verlief, nur mit viel größeren Schutzaufwendungen. Aber andere sagen: Wir telefonieren wieder länger, abends gern, oft auch beim Anbruch der Zeit nach dem Nachmittag.
Sich länger austauschen, mündlich, mit Freundinnen und Freunden, mit Eltern, Geschwistern, Tanten oder Onkels, mit Großeltern sowieso. Es war wie aus der Üblichkeit verschwunden: das ausführliche Telefonat. Nicht das Gespräch im oder für den Job. Die kurzen Absprachen, die hastigen Kommentare, die Koordinationen im Mikrobereich. Sie haben sich ohnehin ein wenig verloren in die Sphären, die Riot oder Slack heißen, Managementtools, um etwa kürzeste Kommunikationsbytes zwischen Kolleg:innen, etwa bei der Produktion einer Zeitung, zu ermöglichen – und auf sie reagieren zu können. Anrufe, gemessen an diesen digitalen Werkzeugen, wären viel zu umständlich. Whatsapp oder SMS (auch schon altmodisch) oder Telegram gehören zu dieser Riege der kommunikativen Matrixbildung ebenfalls dazu.
Das sind alles in allem Elemente moderner, büroschreibtischbasierter Fertigung, wichtige zumal in einer modernen Zeit, die mehr und mehr Homeoffice möglich (und, je nach Standpunkt, nötig) macht. Aber plötzlich, guckte man sich selber an, hörte man Freunden und Freundinnen zu, die Ähnliches in eigener Sache erzählten, stellte sich heraus: Es war ein bisschen wie früher geworden, wie ganz früher. Als man noch sehr jung war, stundenlang mit der besten Freundin telefonierte, thematisch „über die Dörfer ging“, wie es mal hieß, also im Gespräch so gut wie alle existenziellen Fragen des Lebens berührend. Und zwar täglich. Oder sich freundschaftlich dauernd auf dem Laufenden hielt, aber so, dass es sich wie ein realer Kontakt anfühlte. Das geschah durchaus auf Kosten der Angehörigen, der Familie oder der WG, wenn es in ihr nur einen Telefonapparat gab, mit Wählscheibe, so mit Ortstarifen von 23 Pfennig pro Telefonat. Eine Zeit, in der man sich in meterlangen Telefonschnüren verhedderte, diese sich verknäulten … und so weiter. Das gute alte, ja schwierige alte Leben, in der das Telefon nicht so profanisiert war wie heute, sondern Kontaktwerkzeug in die Welt hinaus.
Das war eine Ära – ein, für Ältere wie mich, Erinnerungspool, der, falls Interesse bei Jüngeren an Informationen aus dem digitalen Paläolithikum überhaupt vorhanden, gelegentlich das Gemüt flutete –, die nie wieder kommen würde. Kam auch nicht, und doch ist die Tugend des Gesprächs via Telefonat wieder da: Corona, das war ja im fast abgelaufenen Jahr auch ein Ding des Rückzugs, zwar auch an Schreib- und Wohnzimmertischen, doch auch auf bequemen Sitzmöbeln, etwa einem Sofa. So rief man pötzlich alte Freund:innen wieder an, am Abend, wenn man als Journalist eigentlich einen durchgequatschten Tag hinter sich gebracht hatte. Plötzlich fragte man mit echtem Interesse, Zeit habend: „Wie geht es dir?“ – und hoffte, keine Floskel erwidert zu bekommen: „Gut!“ Knappheit war keine Tugend im Kommunikativen mehr, es durfte ausführlich werden, eben „über die Dörfer“ gehend. Gern auch durch ein zur Ausführlichkeit einladendes „Und sonst so?“.
Schätzungsweise wird dies sich wieder stark verflüchtigen. Aber die Erinnerung, ja die Mahnung, Freundschaften nicht wie Netzwerkmaterial zu sehen und Gespräche ernst zu nehmen: Sie bleibt aus diesem Jahr übrig.
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