Berliner Streaming-Tipps der Woche: Erinnerung im Land des NSU
Die Plattform AVA bietet Bibliotheksnutzer*innen Zugang zu Arthouse-Filmen. Neu im Salzgeber-Programm: Aysun Bademsoys „Spuren – Die Opfer des NSU“.
E s hat zuletzt ja wohl auch niemand etwas anderes erwartet, aber nun ist es beschlossene Sache: Auch im Januar werden die Kinos coronabedingt ihre Türen nicht öffnen können. Wir streamen weiter. Vorgestellt hatte ich vor einigen Wochen schon einmal das interessante Angebot der Berliner Öffentlichen Bibliotheken in Zusammenarbeit mit der Streaming-Plattform Filmfriend, welches Menschen mit gültigem Bibliotheksausweis ohne zusätzliche Kosten nutzen können.
Gleiches gilt jedoch auch für eine weitere über die Bibliothekswebseite zugängliche Plattform: AVA (Audio Visual Access) bietet europäischen Bibliotheksnutzer*innen Zugang zu einem kuratierten Programm internationalen Arthouse-Kinos, wobei man insbesondere auch mit großen (Berlinale, Cannes) und kleineren Filmfestivals zusammenarbeitet.
Von Aralsee bis Cannes
Recht umfangreich ist beispielsweise das Angebot an Dokumentarfilmen. Nach Kasachstan und mitten hinein in eine veritable Umweltkatastrophe führt etwa „Sea Tomorrow“ (2016) von Katerina Suvorova, ein Film, der sich mit der Austrocknung des Aralsees beschäftigt.
Seit dessen Zuflüsse zu sowjetischer Zeit in Bewässerungsprojekte in die Wüste geleitet wurden, schrumpft der See unaufhaltsam, und ehemalige Hafenstädte liegen inzwischen 100 Kilometer vom heutigen Ufer entfernt. Suvorova porträtiert die Menschen, die damit zurechtkommen müssen: Fischer auf dem Trockenen, Strandräuber in rostigen Schiffwracks, ein Gärtner im Salzsumpf. Und die Hoffnung stirbt zuletzt.
Von den Spielfilmen, die über die Jahre beim Festival von Cannes liefen, gehört Leos Carax' experimenteller „Holy Motors“ sicher zu den bizarrsten und fantasievollsten: ein selbstreflexives Spiel mit Träumen und deren Wahrnehmung. Eine Tür führt aus dem Schlafzimmer des Regisseurs direkt ins Kino, und Denis Lavant gibt als Monsieur Oscar den wandlungsfähigen Protagonisten seiner Träume, der für mysteriöse Auftraggeber verschiedenste Rollen verkörpert: Banker, Mörder, Familienvater sowie den animalischen Monsieur Merde. Dabei trifft er mal auf Kylie Minogue, mal auf Eva Mendes – und scheint sich im Lauf des Tages immer häufiger selbst zu begegnen.
Opfer-Täterumkehr im NSU-Komplex
Neu im VOD-Angebot des Berliner Filmverleihs Salzgeber findet sich ein wichtiger Dokumentarfilm des vergangenen Jahres: In „Spuren – Die Opfer des NSU“ rollt Regisseurin Aysun Bademsoy weder die Morde der rechten Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) noch den Gerichtsprozess aus dem Jahr 2018 neu auf, sondern gibt den bislang vernachlässigten Angehörigen der Opfer eine Stimme.
Die Menschen erzählen von ihren Erinnerungen an die Ermordeten, von ihrem gemeinsamen Leben vor den schrecklichen Taten, von ihren Gefühlen, wenn sie noch einmal den Tatort besuchen. Und davon, wie es ist, wenn Polizei und Boulevardpresse aus Opfern potenzielle Täter machen. Von den Hoffnungen, die das Gerichtsverfahren mit sich brachte. Und von ihrer Haltung gegenüber einem Land, einer Gesellschaft, in der diese Verbrechen möglich waren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!