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Coronamythen und Fakten (5)„Es gibt keine Übersterblichkeit“

Coronaskeptiker bezweifeln, dass im Pandemiejahr mehr Menschen sterben als sonst. Doch das ist vielerorts der Fall.

Der Friedhof in im US-Staat Florida wurde angelegt, um an die vielen Corona-Toten zu erinnern Foto: Daniel A. Varela/imago

Übersterblichkeit ist ein nicht ganz leicht zu verstehender Begriff aus der Medizinstatistik. Vereinfacht gesagt gibt er an, ob in einem bestimmten Zeitraum und in einer bestimmten Region mehr Menschen gestorben sind, als zu dieser Zeit und dort zu erwarten gewesen wäre. Wird Übersterblichkeit festgestellt, muss nach Erklärungen dafür gesucht werden.

Im Jahr 2018 starben binnen weniger Wochen viel mehr Menschen als erwartet. Daraus errechnete später das Robert-Koch-Institut, dass in dem Winter 25.100 Menschen an den Folgen der damals besonders heftigen Grippewelle gestorben sind. Medizinisch attestiert waren nur rund 1.700 Grippeopfer. Da es keine andere Erklärung für die vielen Toten gab, wurden alle der Grippe zugerechnet.

Auch für die Bewertung der Coronapandemie ist Übersterblichkeit eine hilfreiche Größe. Die aktuellsten Zahlen liefert das European Mortality Monitoring (Euromomo), das in wöchentlichen Bulletins Zahlen aus 26 Staaten und Regionen in Europa auswertet. Dort konnte man schon Ende April ablesen, dass während der Pandemie mehr Personen starben, sogar deutlich mehr als offiziell als Coronatote anerkannt waren. Aktuell kommt Euromomo auf 300.000 Menschen, die im Laufe des Jahres in den 26 Regionen „zu viel“ gestorben sind. Grafiken der New York Times zeigen das anschaulich auch für viele nichteuropäische Länder.

Die Kurven für Deutschland haben aber kaum Ausschläge. Daher behaupten Coronaskeptiker, wie etwa der Fraktionschef der Brandenburger AfD, Hans-Christoph Berndt, es gebe keine Übersterblichkeit. René Gottschalk, Leiter des Frankfurter Gesundheitsamts, kritisierte zu harte Coronamaßnahmen, weil eine Übersterblichkeit nicht zu verzeichnen sei.

Und selbst der anerkannt seriöse Virologe Hendrik Streeck, hatte schon im März in einem FAZ-Interview gesagt: „Ich lehne mich mal weit aus dem Fenster und sage: Es könnte sein, dass wir im Jahr 2020 zusammengerechnet nicht mehr Todesfälle haben werden als in jedem anderen Jahr.“

Langfristig gleicht sich Übersterblichkeit eher aus, bei kürzeren Zeiträumen aber wurde sie schnell sichtbar. So kamen bei der ersten Welle im April binnen einer Woche 19.636 Menschen ums Leben, fast 15 Prozent mehr als üblich. Das Statistische Bundesamt sprach erstmals von einer Übersterblichkeit.

Die neuste Sonderauswertung zu Sterbefallzahlen des Bundesamts zeigt das Drama der zweiten Welle. Vom 25. Oktober bis 21. November starben fast 7 Prozent mehr Menschen als üblich. Im Lauf des Jahres wurden bis dahin rund 15.000 mehr Tote re­gis­triert als im Schnitt der Vorjahre. Die extrem gestiegene Zahl der Coronatoten aus den letzten vier Wochen ist da nicht einmal berücksichtigt. Die Übersterblichkeit wird daher bis Silvester noch steigen.

Sind aber alle Übertoten Coronaopfer? Nein, auch im August gab es einen Ausschlag nach oben: wegen der Hitzewelle. Umgekehrt trug die Pandemie auch zur Senkung der Opferzahlen bei. Im Frühjahr gab es weniger Verkehrstote, weil im Lockdown wenige unterwegs waren.

Übersterblichkeit ist in Deutschland noch nicht so dramatisch, wie in anderen Ländern, aber dennoch ein Fakt. Sie ist ein Indiz für die Auswirkung der Coronapandemie. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Nachtrag: Am Freitag hat das Statistische Bundesamt eine neuste Auswertung der Sterbefallzahlen in Deutschland veröffentlicht. Danach starben Ende November in der Kalenderwoche 47 bundesweit 9 Prozent mehr Menschen als in den Vorjahren. In Sachsen gab es sogar 46 Prozent mehr Tote als im Schnitt der letzten vier Jahre. In Baden-Württemberg, Brandenburg und Thüringen lagen die Sterbefallzahlen in der Woche 12 Prozent über dem Normalniveau.

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