Neujahrsansprache von Angela Merkel: „Die Kraft der Vielfalt“
Die Kanzlerin findet an Silvester berührende Worte und zeigt Haltung. Nur: Über Politik spricht sie wenig, dabei hat ihre Politik die Krise erschwert.
B erührende Worte hat die Kanzlerin in ihrer letzten Neujahrsansprache gefunden. Das Coronavirus treffe „uns da, wo wir am allermenschlichsten sind: im engen Kontakt, in der Umarmung, im Gespräch, beim Feiern“, sagte Angela Merkel. Sie spricht damit aus, was vermutlich neben den Existenzsorgen oder der Arbeitsüberlastung, alle beschäftigt: die fehlende Nähe. Die Pandemie „war und ist eine politische, soziale, ökonomische Jahrhundertaufgabe“, sagte sie.
Sie hat ja recht. Die Versuchung ist groß, ihr einfach nickend zu folgen. Sie findet Worte der Anteilnahme für alle, die geliebte Menschen verloren haben. Sie beweist Haltung und gibt den Coronaverharmloser:innen einen mit: Verschwörungstheorien seien nicht „nicht nur unwahr und gefährlich“, sondern auch „zynisch und grausam diesen Menschen gegenüber“. Sie dankt den Ärzt:innen und Pflegekräften, den Menschen, die das Land am Laufen halten, den disziplinierten Bürger:innen.
Und sie beschwört die „Kraft der Vielfalt“. Die Impfstoffentwickler:innen Uğur Sahin und Özlem Türeci hätten ihr erzählt, dass in ihrer Firma Biontech „Menschen aus 60 Nationen“ arbeiten. Mit dem Wissen, dass Merkels Ära nach der Bundestagswahl im September endet, kommt man kaum umhin, ihr angesichts des grassierenden Rechtspopulismus dankbar zu sein für ihre integrierenden, ruhigen Worte.
Nur: Merkel hebt alles auf eine persönliche Ebene, sie lulllt ein mit warmen Worten. Spricht die mächtigste Politikerin Deutschlands auch über Politik? Ja, sie redet über die Milliardenhilfen. Aber mit keinem Wort erwähnt sie die erbärmliche, menschenunwürdige EU-Flüchtlingspolitik.
Dass Pfleger:innen an der absoluten Belastungsgrenze arbeiten, dafür ist ihre Politik mit verantwortlich, das war schon vor der Krise so. Und dass die Bundeswehr „an allen Ecken und Enden Unterstützung leistet“, ist nur Folge der Personalknappheit. Die Arbeiter:innen an den Kassen, in den Fleischfabriken oder in den Kitas wurden nicht erst jetzt als „systemrelevant“ entdeckt. Gewerkschaften und linke Bündnisse kreiden die Missstände in den Branchen seit Jahren an. Die Maxime des Profits hat die Krise maximal erschwert. Wer mit Hoffnung ins neue Jahr blicken will, muss auf eine andere, sozialere Politik setzen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!