Gefängnis für Jugendliche: Amin ist wieder da
Unser Autor arbeitete als Abteilungsleiter in der JVA Adelsheim. Immer wieder begegnete ihm dort Amin. Kann jungen Männern so geholfen werden?
D ie Sonne steht grell am Himmel über den Hafthäusern in Adelsheim. Amin sitzt an diesem schon morgens drückenden Frühsommertag im Polizeiwagen vor dem großen, grauen Tor zur Justizvollzugsanstalt. Er ist wieder da. Er wird einen der 417 Haftplätze belegen, die der JVA Adelsheim als zweitgrößter Jugendstrafvollzugsanstalt in Deutschland zur Verfügung stehen. Seine alte Gefangenenbuchnummer wird durch eine neue ersetzt werden: von 01 1 844/2018 zu 01 1 360/2019.
Adelsheim ist eine Kleinstadt im Odenwald, im Norden Baden-Württembergs. „Badisch Sibirien“ – so nennen die Menschen die Gegend hier. Die Haftanstalt liegt auf einem Hügel über der Kleinstadt, umgeben von Wald und Getreidefeldern. Den steilen Hang zur Anstalt befahren keine öffentlichen Verkehrsmittel. Geht man ihn hinauf, sieht man das Gefängnis zunächst nicht, erst wenn der Hang etwas Neigung verliert, taucht die lange, graue Mauer auf. Innerhalb dieser Mauern ist das Gelände grün und weit, die betonierten Wege trennen Wiesen und Bäume. Die Hafthäuser, markiert mit Bezeichnungen wie E3 oder Q, verteilen sich weitläufig auf dem Gelände. Ein Ort der Kurskorrektur und Weiterentwicklung, an dem die jungen Männer die Freiheit nicht aus dem Blick verlieren sollen, so der Gedanke bei Errichtung.
Freiheit – damit kann Amin wenig anfangen. Mit seinen 17 Jahren ist er bereits mehrfach in Haft gewesen. Keine Gewaltdelikte; Diebstähle und Beleidigungen füllen vor allem seine Akte. In Wirklichkeit heißt Amin anders. Um ihn zu schützen, wurde sein Name in diesem Text geändert. Viele der Jugendstrafgefangenen empfinden die Anrede mit „Sie“ oder „Herr“ als unangenehm, deshalb soll auch Amin hier nur beim Vornamen genannt werden.
Zeitweise lebte Amin auf der Straße, eine Bindung an seine Eltern besteht kaum. So steht es in seiner Akte, so berichten es Sozialdienst und psychologischer Dienst. Mutter und Vater lebten getrennt, Großeltern und Jugendheime übernahmen die Erziehung. Seine Mutter möchte ihn nicht mehr sehen. Schon als kleinen Jungen setzte sie Amin häufig vor Haustüren von Bekannten ab und verbrachte Monate bei ihrem Freund im Ausland. Sein Vater überließ Amin dessen Mutter, er meldete sich nur gelegentlich, inzwischen ist der Kontakt abgebrochen. Die Großmutter war für ihn da, zu ihr hatte er ein engeres Verhältnis. Sie starb vor Kurzem. Einen Schulabschluss hat Amin nicht, so wie mehr als die Hälfte der Inhaftierten hier. Er war mehrfach in psychiatrischer Behandlung, die Ärzte diagnostizierten bei ihm Störungen des Sozialverhaltens, der Aufmerksamkeit sowie der Impulskontrolle. Sie befürchten die Entwicklung einer Persönlichkeitsstörung mit Haltlosigkeit und Dissozialität. Einen multiplen Substanzgebrauch – „Mischkonsum“ – stellten sie ebenfalls fest.
Draußen wie in Haft ist Amin sowohl Täter als auch Opfer. Einerseits beleidigt er Mitgefangene und Beamte, randaliert in seinem Haftraum und zerstört Anstaltseigentum, andererseits unterdrücken ihn stärkere Insassen und nehmen ihm seinen Einkauf weg. Einmal verbreitete ein Insasse Gerüchte über Amins Straftaten. Mehrere Gefangene rotteten sich daraufhin zusammen, warteten auf eine Gelegenheit und schlugen, würgten und traten Amin. Er wurde zu seinem Schutz in ein anderes Hafthaus verlegt.
Ich bin im Sommer 2019 Abteilungsleiter in der JVA und damit zuständig für mehrere Hafthäuser und ihre Insassen, darunter Amin. Als Jurist bearbeite ich die Anträge der Insassen, wenn etwa jemand Ausgang möchte. Bei Regelverstößen kann ich Disziplinarmaßnahmen anordnen, zum Beispiel die Kürzung des Hausgelds oder Fernsehentzug. Gemeinsam mit den Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern regele ich zudem den Alltag der Jugendlichen in der JVA. Wir planen Weiterbildungen und Therapiemaßnahmen. Wir bereiten sie auch auf ihre Entlassung vor. Ich habe mich für die Arbeit im Gefängnis entschieden, weil ich versuchen möchte, das Leben der jungen Männer ein klein wenig besser zu machen.
Seit Beginn meiner Tätigkeit in Adelsheim habe ich einige Geschichten erlebt, die der von Amin ähneln. Und ich frage mich: Was kann Jugendvollzug wirklich leisten? Ist es für uns überhaupt möglich, die jungen Menschen auf ein besseres Leben draußen vorzubereiten?
Als ich an diesem Vormittag in die JVA komme, sehe ich schon den Polizeiwagen vor dem Tor. Die Frau in der Torwache begrüßt mich, und wie jeden Morgen teilt sie mir kurz mit, ob es Vorfälle in der Nacht gab. „In der Nacht nicht, aber Herr Rug ist wieder da“, sagt sie. Er komme in Untersuchungshaft. Ich blicke durch die abgedunkelte Scheibe der Torwache zum Polizeiwagen, kann Amin aber nicht sehen.
Der dringende Tatverdacht, wegen dem Amin nun in Untersuchungshaft sitzt, so erfahre ich später von der zuständigen Sozialarbeiterin, lautet auf Hausfriedensbruch und versuchte Brandstiftung. In der Begründung des Haftbefehls heißt es hinsichtlich der Fluchtgefahr: „Der Beschuldigte hat im Inland keinen Lebensmittelpunkt und verfügt über keine sozialen Bindungen.“
Der Polizeiwagen fährt durch das erste Tor, das sich langsam öffnet, und parkt in der Schleuse vor dem zweiten, gelben Tor. Die beiden Polizisten bringen Amin zunächst in die Sicherheits-, Transport- und Besuchsabteilung, kurz STB, direkt hinter dem zweiten Tor. Die Kollegen, die dort Dienst haben, kennen Amin schon, er bleibt nur kurz, wird durchsucht und dann von einem der Polizisten und einem Vollzugsbeamten in das Verwaltungsgebäude, den A-Bau, geführt. Der A-Bau ist ein provisorischer, mehrstöckiger Containerbau, die Errichtung eines neuen Verwaltungsgebäudes verzögert sich seit Jahren. In einem dieser Container im Erdgeschoss sitzt Amin einer Frau gegenüber, die seine persönlichen Daten erfragt, sie ins System einspeist und ihn belehrt – unter anderem darüber, dass er sich hier nicht tätowieren darf. Amin weiß schon Bescheid.
Ich sitze zu dieser Zeit an meinem Schreibtisch, zwei Etagen über Amin. Ich blicke vom Stapel der Gefangenenanträge auf, und meine Augen folgen den Stimmen im Hof. Einige Insassen spielen Fußball. Ein Strafgefangener aus Mannheim schreit nach einem Tor: „Jungbusch!“, so heißt ein Bezirk in der Innenstadt dort. Hinter ihm streiten sich zwei junge Männer aus der gegnerischen Mannschaft. Sie sprechen Arabisch und zeigen mit ihren erhobenen Armen in entgegengesetzte Richtungen.
Zwei Drittel der jungen Männer in Adelsheim haben einen Migrationshintergrund. Früher gab es hier viele Russlanddeutsche, die im Erwachsenenvollzug immer noch eine starke Gruppierung bilden. Ließen sich aus dem Jugendvollzug Vorhersagen treffen, dann werden die Russlanddeutschen in den Gefängnissen Baden-Württembergs künftig keine Rolle mehr spielen. Die gegenwärtige Gefangenenzusammensetzung zeigt ein heterogenes Bild ohne übermächtige Gruppierungen.
Jedes Gefängnis hat seine Geschichten. Geschichten, die das Leben innerhalb der Mauern bis in die Gegenwart prägen. Für Adelsheim gehört zu diesen Geschichten die Schlägerei während des Hofgangs im August 2014. Hintergrund waren Machtkämpfe zwischen rivalisierenden Gruppen von Gefangenen. Macht, das bedeutet in der JVA vor allem die Kontrolle des Schmuggels, die Verteilung der Einkäufe und der persönlichen Gegenstände. Wer Macht hat, kann über andere Gefangene bestimmen.
In einem aussichtslosen Versuch, ihre Stellung in der Gefangenenhierarchie zu wahren, griffen russlanddeutsche Gefangene während des Hofgangs andere Gefangene an, die ihnen den Rang streitig machten. Während die Bediensteten versuchten, die Gefangenen auseinanderzubringen und die Gewalt einzudämmen, schlug der Angriff auf sie um. Einige Bedienstete wurden dabei verletzt.
Insbesondere die Regelvollzugshäuser E2 und E3, also die Hafthäuser mit der geringsten Freiheit und Unterbringungsort der damals an der Schlägerei beteiligten Insassen, haben seither getrennten Hofgang. Im großen Hof befindet sich dafür nochmals ein kleinerer, umzäunter Hof. Die Gefangenen rücken zeitversetzt in diese Höfe ab. Das Sicherheitsdenken färbt nun stärker alltägliche Entscheidungen in Adelsheim, egal ob es um den Hofgang, häuserübergreifende Freizeitgruppen oder Kunstprojekte geht. Der Vertrauensverlust ist noch nicht überwunden. Die Gefangenen von damals sind hingegen schon lange weg.
Handys, versteckt im Deoroller
Während ich in den Hof blicke, sehe ich, wie auf einer der Hoflaternen um das große Fußballfeld ein Mäusebussard sitzt. Keine Seltenheit im Odenwald, viele Greifvögel kreisen über dem offenen Gelände der Anstalt. Sie jagen Feldmäuse und gelegentlich auch Ratten, die vor einigen Jahren hier eine Plage waren und Beamten bei ihrem nächtlichen Rundgang über die Füße liefen. Die Anhöhe, auf der sich das Gefängnis befindet, ist ruhig. Vormittags, wenn die jungen Gefangenen in den Werkbetrieben arbeiten oder zur Schule gehen, haben die Tiere freies Feld.
Über die Sinnhaftigkeit der geografischen Lage der einzigen Jugendvollzuganstalt in Baden-Württemberg lässt sich streiten. Ruhig ist es hier, aber man braucht eine Stunde in größere Städte wie Stuttgart, Heidelberg oder Heilbronn. Werden Gefangenen Ausgänge gewährt, laufen sie den Hügel hinab und essen in Adelsheim ein Eis oder einen Döner. Das ist für den Anfang nicht schlecht. Einige der jungen Männer müssen sich an die Freiheit erst wieder gewöhnen. Bei einem Gruppenausgang nach Berlin habe ich das selbst sehen können. Junge Männer, die mit breiter Brust und lässigen Gesten ihr Reich im Gefängnishof ablaufen, werden in den Straßen Berlins ganz leise und sehr müde. Adelsheim ist überschaubar.
Die Vorbereitung der Entlassung, wenn es um weiterführende Schulen, Ausbildungsplätze und Unterkünfte geht, wird durch die Lage allerdings schwerer. Auch der Kontakt zur Familie. Nach dem Gesetz dürfen junge Gefangene vier Stunden Besuch im Monat empfangen. Für die Angehörigen vieler Insassen stellt die Anreise ein ernsthaftes Problem dar. Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln ist die Anstalt außerhalb der näheren Umgebung nur durch viele Umstiege zu erreichen. Ohne Auto dauert es zudem eine gute Viertelstunde den Hang hinauf, bei allein anreisenden Großeltern deutlich länger. Oftmals beschränkt sich der Kontakt zur Familie auf Briefe und manchmal nur ein Telefonat im Monat. Briefe, die regelmäßig überwacht, und Telefonate, die mitgehört werden.
Handys sind in der JVA verboten. Auch das könnte man als Erziehung betrachten – sich ohne Smartphone beschäftigen können. Bei vielen Raubdelikten der Jugendlichen ist Tatobjekt ein solches Smartphone. Nicht nur draußen, auch drinnen sind die Geräte begehrt, und es wird viel riskiert, um ein Handy in die Anstalt zu bringen: über Besucher oder Mauerwürfe, versteckt in Schuhsohlen und Spielekonsolen oder verpackt zwischen alten Brotscheiben. Ganz kleine Geräte werden auch mal in Deorollern eingebaut. Sicherheitsbeauftragte katalogisieren diese kreativen Versuche und schließen Sicherheitslücken.
Amin hat bei seiner Einlieferung kein Handy bei sich. Er bleibt noch im Verwaltungsgebäude und wird den Flur entlang zur Zahlstelle gebracht, wo er sein mitgeführtes Geld abzugeben hat. Im Gefängnis dürfen die Insassen kein Bargeld haben, ihren Arbeitslohn verwaltet die Anstalt. Über die Hälfte des Arbeitslohns geht auf ein Überbrückungsgeldkonto. Dieses Geld bleibt grundsätzlich unangetastet bis zur Entlassung und dient als Startkapital in Freiheit. In Baden-Württemberg sind es maximal 2.019 Euro.
Amin hat ein paar Euro in der Tasche, mehr nicht. Viel wird er auch in Haft nicht verdienen, er hält sich in keinem Betrieb lange. Die Gefangenen dürfen sich neben ihrem Verdienst einmal im Monat Geld von Angehörigen einzahlen lassen, grundsätzlich maximal 35 Euro, sogenanntes Sondergeld 1. Es ist ein Ersatz für die inzwischen aufgrund der Schmuggelgefahr verbotenen Pakete. Niemand wird Amin Geld schicken.
Adelsheim hat 22 Werkbetriebe, in denen die Insassen arbeiten können. Besonders begehrt ist die Kfz-Werkstatt. Auch eine Schule gibt es, Haupt- und Realschulabschluss können gemacht werden. Für die mündliche Realschulabschlussprüfung müssen die Gefangenen die Anstalt verlassen. Begründet ihr Verhalten Vertrauen und sieht die Vollzugsleitung keine Flucht- oder Missbrauchsgefahr, können sie allein gehen; sie haben dann „Ausgang“. Ist ihr Verhalten schlecht und schenkt die Anstalt ihnen kein Vertrauen, können sie nur unter Sicherheitsvorkehrungen „ausgeführt“ werden. Dies heißt ständige und unmittelbare Beaufsichtigung oder auch Fesselung.
Amin kommt nun auf die Kammer, ein kellerartiger Raum im Erdgeschoss eines Hafthauses nahe des Tors. Die Kammer verwahrt die Habe der Gefangenen, persönliche Gegenstände, die sie nicht auf dem Haftraum haben dürfen, und vergibt die Anstaltskleidung. Amin ist Untersuchungsgefangener. Als solcher darf er im Gefängnis private Kleidung tragen. Amin hat aber nur die Kleidung bei sich, die er am Körper trägt. Er bekommt daher Anstaltskleidung. Anstaltskleidung – das sind in Adelsheim einheitlich blaue oder rote Sportanzüge aus Baumwolle, keine Marken, keine Besonderheiten, nur verwaschene Farbe.
Begehrte Privatkleidung sind bei den Gefangenen Trainingsanzüge bekannter Marken. Für besondere Anlässe müssen die jungen Männer meistens Sonderbestellungen über den Gefangeneneinkauf tätigen. Neben Bewerbungsgesprächen kann ein solcher Anlass auch eine anstaltsinterne Hochzeit sein. Das ist möglich in Justizvollzugsanstalten. Das Leben der jungen Strafgefangenen in Haft soll vom Leben in Freiheit möglichst wenig abweichen. Das Gesetz nennt das „Angleichung an allgemeine Lebensverhältnisse“.
Eine solche Hochzeit erlebe ich einige Wochen nach Amins Rückkehr. Das Paar sitzt nach der Trauung mit Eltern, Pfarrer und Seelsorger, Werkmeister, dem stellvertretenden Anstaltsleiter und mir am Tisch und isst Linzertorte aus der anstaltseigenen Bäckerei. Alkohol darf in der Jugendvollzugsanstalt nicht getrunken werden. Der junge Mann trägt ein grauschwarzes, etwas zu kurzes Hemd, darunter ein Kreuz aus Olivenholz, und eine schwarze Jeans. Er spricht kaum. Seine Frau, in silberfarbenem, kurzem Kleid, spricht gar nicht. Ich versuche Blickkontakt herzustellen, beide schauen jedoch auf die Teller vor ihnen. Ihnen ist diese Hochzeit in Unfreiheit und unter Fremden sichtlich unangenehm.
Glücklich sieht der junge Gefangene trotzdem aus, er lächelt immer wieder abwesend. Als jemand aus der Runde in die Stille fragt, wie sie sich kennengelernt haben, antwortet erst keiner der beiden. Schließlich sagt der Bräutigam nur: „Im Club“, schließt die Augen und grinst. Zum Abschied übergibt er seiner Frau einen Blumenstrauß, den der Seelsorger für ihn besorgt hat, und küsst sie zaghaft auf die Wange.
Im „Aquarium“ leben die „Fische“
Beziehungsaufbau im Zwangskontext – einer der Widersprüche im Strafvollzug. Die jungen Männer hier brauchen Bezugspersonen, also Menschen, denen sie vertrauen und denen sie sich mitteilen. Eine solche Bezugsperson ist sogar gesetzlich vorgesehen. Das Gesetz kann hier aber nicht mehr als eine Erinnerung sein, Erinnerung daran, dass Resozialisierung das Ziel des Vollzugs ist und Resozialisierung Beziehungen braucht. Beziehungen, an denen es Amin mangelt.
Es ist inzwischen Nachmittag. Eine hellgraue Wolkendecke überzieht den Himmel, es riecht nach Sommerregen. Ein Bediensteter läuft mit Amin über das Gelände. Bevor Amin auf seinen Haftraum gebracht wird, kommt er auf das Revier, die medizinische Versorgungsabteilung. Dort wird er untersucht. Es gibt keinen Befund, Amin kann auf seinen Haftraum.
Ich gehe zur selben Zeit über den großen Hof, auf dem die Gefangenen gerade Hofgang haben, die gesetzlich garantierte tägliche eine Stunde. Manche joggen im Kreis und machen oberkörperfrei Liegestütze, andere spielen auf den Treppenstufen Karten. Ich sage zu ihnen: „Aber ohne Spielschulden.“ Zwei sehen auf, lächeln, schauen wieder auf ihre Karten. „Geht klar, Chef.“ Ich führe ein paar Gespräche, höre mir Beschwerden über das Essen an, während Amin schon im Hafthaus D angekommen ist.
Im Hafthaus D wird die Untersuchungshaft vollzogen. Bei seiner letzten Inhaftierung war Amin in einem Hafthaus untergebracht, das von Gefangenen, die unter den jungen Männern etwas zu sagen haben, als „Aquarium“ bezeichnet wird. In einem Aquarium leben Fische, und „Fisch“ nennen diese Insassen andere, die sie als schwach, als Opfer, als Verräter betrachten. Amin ist schmächtig, sein Gesicht hager und ungesund blass, seine Augen sind gerötet. Er hat schnell Probleme mit anderen Gefangenen, weil er ständig provoziert. Unterbringung in einer Einzelzelle, gesonderter Hofgang und der Ausschluss vom Kirchgang waren in der Vergangenheit die Folge.
Wegen Suizidgefahr kam Amin auch schon in den besonders gesicherten Haftraum (kurz: bgH), einen Raum, der keine Ausstattung hat und die Gefahr von Selbstverletzungen minimieren soll – die Gefangenen nennen ihn „Bunker“. Der bgH ist nach der gesetzlichen Bestimmung keine Strafe, sondern Sicherungsmaßnahme. Findet sich jemand, der mit Amin den Haftraum teilt und den Amin seinerseits akzeptiert, kommt es zu dem, was hier „einfache Gemeinschaft“ heißt: Jemand, der sich selbst verletzen könnte, schläft nicht allein. Das ist das erste Mittel der Wahl in Gefängnissen gegen den Suizid.
Mit Amin sind an diesem Tag andere junge Männer angekommen, die Zeit abzusitzen haben. Strafgefangene sind dabei von Untersuchungsgefangenen zu trennen, Letztere können nicht einfach wie Strafgefangene behandelt werden. Für Untersuchungsgefangene gilt die Unschuldsvermutung.
Strafgefangene kommen zuerst in die Zugangsabteilung, den C-Bau. „Schlauch“, sagen die Insassen. Dort kommen alle neuen Gefangenen zusammen – mit ihren unterschiedlichen Persönlichkeiten und Straftaten, Starke und Schwache. In Zeiten hoher Belegung bedeutet das ein Jonglieren mit Haftplätzen, um Sicherheit für jeden Insassen zu gewährleisten.
Wer prügelt, kriegt „Nachschlag“
Nach einer gewissen Zeit im Zugang wird ein Insasse einem der zehn Hafthäuser auf dem Gelände zugeteilt. Manche können direkt in ein Projekt des freien Vollzugs und verlassen Adelsheim schon wieder. Anderen traut man Freiheiten in der Haftanstalt zu, sogenannte Innenlockerungen: etwa freie Bewegung im Hafthaus und ein eigener Haftraumschlüssel. Manche brauchen psychologische Betreuung oder Schutz. Einige Sexual- und Gewaltstraftäter kommen, sofern ein Platz frei ist, in den F-Bau zur Sozialtherapie.
Der Rest kommt erst einmal in die Hafthäuser des geschlossenen Regelvollzugs, E2 und E3. Dort landen viele Gefangene, die als „stark“ bezeichnet werden, was hier vor allem bedeutet, sich mit Gewalt, psychisch oder körperlich, über andere Insassen zu stellen. Aus dieser Stärke entstehen Straftaten, meist wird bedroht, erpresst und geschlagen, die Anstalt zeigt die Taten an, und die Staatsanwaltschaft ermittelt. Das Ergebnis ist meist eine längere Haftzeit – „Nachschlag“, in der Sprache des Gefängnisses.
Es hat nicht geregnet. Über die grünen Felder der JVA weht noch ein leichter Wind, zwischen den Hafthäusern sieht man die langsamen Bewegungen des Grases. Es dämmert, als Amin seinen Haftraum bezieht. Der Beamte im Haus belehrt ihn über die Hausordnung. Die wichtigsten Dinge, wie den Tagesablauf, den Einkauf zweimal im Monat und die Disziplinierung wegen Regelverstößen, kennt Amin sowieso schon.
Würde Amin aus seinem Haftfenster nach draußen schauen, könnte er sehen, wie einige Insassen aus verschiedenen Häusern Richtung Anstaltsküche laufen. Um 18 Uhr findet heute im Speisesaal der Gefängniskantine ein Rap-Contest unter den Insassen statt. Einige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der JVA sind als Zuschauer da, ich sitze in der Jury. Die Gefangenen sind aufgeregt und rauchen draußen noch einmal, bevor es losgeht.
Es sind Gefangene aus fast allen Hafthäusern. Starke und Schwache. Aber an diesem Abend spielt die Hierarchie unter den Gefangenen keine Rolle. Als ein Rapper aus dem Q-Bau seinen Auftritt zweimal abbrechen muss, weil er den Text vergisst, rufen ihm zwei kräftige Jungs zu: „Mach weiter, bleib cool, beim dritten Mal klappt’s!“ Es klappt beim dritten Mal.
Der Gefangene, der den Contest gewinnt, gehört zum Hafthaus E3, geschlossener Vollzug, er ist einer von den Starken. Er trägt eine hellblaue Jeans und ein weißes, lockeres T-Shirt, hat kurze Haare und einen feinen Schnauzbart. Unter den Gefangenen ist er beliebt, er lacht viel und umschlingt seine Freunde im Hof, wenn er Geschichten erzählt. An diesem Abend rappt und singt er über seine Mutter.
Verzeih mir für die Termine beim Polizeiinspektor
Und die vielen Anrufe vom Direktor,
du sagtest, irgendwann werden sie mich in die Zelle schließen,
und jetzt spüre ich wie deine Tränen fließen …
Was ich in dem Song erzähl, fällt mir kein bisschen leicht.
Doch ich hoffe zumindest, dass es dich mal erreicht...
Ich hab’s versucht, alle meine Fehler zu beheben,
doch ein Happy End kann es nicht in jedem Leben geben …
Am Ende der Veranstaltung rappen die Jungs noch ein wenig untereinander und reichen sich gegenseitig das Mikrofon, bevor sie wieder auf ihre jeweiligen Hafthäuser gehen.
Amins Geschichte veranschaulicht auch das Problem, das Kriminologen als „Intervention nur am Individuum“ bezeichnen. Der Vollzug kommt am Ende einer Reihe von Interventionen. Interventionen, die bereits viel Zeit und Geld gekostet haben, etwa die Unterbringung im Jugendheim. Nichts half. Und nun soll es der Vollzug richten. Damit kämpft der Strafvollzug gegen die ganze Lebensgeschichte eines jungen Mannes. Teil dieser Aufgabe sind in Adelsheim insbesondere der Sozialdienst und der psychologische Dienst, Lehrerinnen und Lehrer und die Frauen und Männer des Vollzugsdienstes und des Werkdienstes. Insbesondere Hafthaus und Arbeitsbetrieb versuchen aufzufangen, was Eltern und Gesellschaft nicht schaffen. Sie nehmen sich der täglichen Grundbedürfnisse der jungen Männer an, vom Pflaster über die zusätzliche Rolle Klopapier bis hin zu Essen, Kleidung und Duschgang. Sie gehen dazwischen, wenn geprügelt wird. Sie hören zu, ermahnen, streiten, helfen, erziehen, geben Rat. Sie sind da, täglich, Stunde um Stunde. Und dieses Da-Sein, wenn Respekt und Menschlichkeit hinzukommen, ist vielleicht die größte Chance des Vollzugs.
Aber zu dieser Lebensgeschichte eines Straftäters gehört eben auch sein soziales Umfeld. Und diese Welt berührt der Vollzug nicht, kann sie nicht berühren. Das ist Gesellschaft, nicht Verwaltung. Bei Gewaltstraftätern kann man beispielsweise eine Gruppe festmachen, die Gewalt maßgeblich deshalb ausübt, weil es ihre Peergroup tut. Sie laufen mit. In diese Welt kehren viele junge Männer zurück. „Intervention nur am Individuum“, das heißt: Der Vollzug kann mit dem jeweiligen Jugendstrafgefangenen arbeiten, aber innerhalb der Mauern seiner künstlichen Welt liegen auch seine Grenzen.
Es gibt Statistiken, nach denen die Rückfallquote unabhängig ist von der Form des Vollzugs. Anders gesagt: Egal ob geschlossener, gelockerter oder gar freier Vollzug, jeweils die Hälfte der Gefangenen kehrt zurück ins Gefängnis.
Was aber ist der Sinn daran, dass Amin in Haft sitzt? Manche werden sagen: die Sicherheit der Allgemeinheit. Eine vorübergehende, trügerische Sicherheit, die einen jungen Menschen zu oft entlässt, wie sie ihn aufgenommen hat, wenn nicht in schlimmerem Zustand – und in der Freiheit steht er wieder allein vor seinen Problemen.
Die Sonne geht unter über dem Gelände der Justizvollzugsanstalt. Die Hofgänge sind beendet, die jungen Männer auf ihren Hafträumen. Es ist ungewöhnlich still an diesem Abend. Der Mäusebussard kreist in der Dämmerung über der Anstalt, als ich den A-Bau verlasse.
Einige Zeit nach seiner Rückkehr spreche ich Amin auf seinem Haftraum, weil er Inventar beschädigt hat. Ich klopfe an und öffne seine Tür. Ich trete einen Schritt in den Raum, und Amin kommt mit breitbeinigem Schritt auf mich zu, die Hände in den Taschen der dunklen Jogginghose. „Was gibt’s?“ Die Haltung ist konfrontativ, aber auch bemüht lässig; er wirft den Kopf etwas nach hinten und reckt das Kinn. Er rechnet mit einer disziplinierenden Maßnahme und sein Ausdruck soll zeigen: Das juckt mich nicht.
Die Wand in seinem Haftraum hängt voller Bilder. Neben den Ausrissen von Playmates sehe ich auch mit Bleistift gezeichnete Bilder. Ich frage ihn danach. Er stockt in seinem Auftritt und überlegt. Ich sehe mir die Bilder weiter an, der Stil erinnert mich an Mangas, die Kleidung der Figuren hat zahlreiche feine Details. Langsam antwortet er, nun leiser, die Schultern sacken etwas ab, und er sagt, dass er das eben gern mache, ein Hobby. Etwas weiter oben hängt das Bild eines alten Mannes auf einem Stein vor einer Wiese. Ich frage ihn, ob er mir sage, wer der Mann sei, der so ruhig und stolz auf dem Stein sitze. Sein Großvater. Er lebe nicht mehr, aber er könne sich noch aus frühen Kindheitstagen an ihn erinnern. Er sei mit ihm viel draußen gewesen, aber dann krank geworden. Wir reden am Ende noch kurz über die Disziplinarmaßnahme. „Okay“, sagt Amin nur.
Amin hat eine Justiz- und Vollzugsgeschichte. Eine Geschichte auf dem Papier vieler Behörden. Der Junge, der mir seine Haftraumwand erklärt, erzählt mir eine andere, eine leisere Geschichte. Es ist ein Flüstern, ich sage nicht eine Hoffnung, aber etwas, dem man lauschen kann.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Abschiebung von Pflegekräften
Grenzenlose Dummheit
Plan für Negativ-Emissionen
CO2-Entnahme ganz bald, fest versprochen!
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein