Raymond Depardons Bildband „Rural“: Fotografische Flaschenpost
Der Bildband „Rural“ überzeugt durch Anteilnahme und Sachlichkeit. Darin nimmt der Fotograf Raymond Depardon das ländliche Frankreich in den Blick.
Alles ist zu. Bis mindestens 10. Januar. Statt in der Galerie schauen wir uns eben die Bilder im Buch an. Für Fotografien ist das sowieso der einzig richtige Ort. Das belegt einen weiteres Mal die Publikation „Rural“ der zurzeit ebenfalls geschlossenen Fondation Cartier mit Aufnahmen von Raymond Depardon.
Zuletzt streamen wir die Bilder auch. Und entdecken dabei, wie wir zu unserer Verwunderung feststellen, oft wahre Schätze. Auf Youtube finden wir etwa Raymond Depardons „Profils paysans“, die dreiteilige Filmdokumentation vom Niedergang und Verschwinden der bäuerlichen Kultur in den französischen Mittelgebirgsregionen. „L’aproche“ (2000), „Le quotidien“ (2004)“ und „La vie moderne“ (2008) ergänzt nun der Bildband „Rural“ mit einem Konzentrat der frühen Aufnahmen, die der vielfach preisgekrönte Fotograf (Robert Capa Gold Medal, Pulitzerpreis) um 1990 herum, vor inzwischen schon 30 Jahren, in den Cevennen und im Massif Central gemacht hat.
Depardon könnte hier ein Anliegen gehabt haben, denn er wuchs selbst auf einem Bauernhof in der Region Villefranche-sur-Saône auf, der, wie viele Höfe der Gegend, aufgegeben, also verkauft und in Ferienwohnungen umgewandelt wurde. Trotzdem, wahrscheinlich aber gerade deswegen, ist sein Blick auf ein ländliches Frankreich, das in ein paar Jahrzehnten (also heute) nur noch eine Minderheit von Touristen kennt und schätzt, ohne Nostalgie oder Melancholie, deutlich, aber voller Anteilnahme.
In 86 Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die er mit einer 6 x 9 Mittelformatkamera aufgenommen hat, werden wir unter anderen mit dem Dorf Fay-sur-Lignon im Departement Haute-Loire bekannt gemacht, wie es im Schneematsch vor sich hindämmert; nur vor dem „Café des Amis“ stellt Depardon zwei Männer. In Le Villaret trifft er auf den 84-jährigen Marcel Privat und seinen 83-jährigen Bruder Raymond sowie den Neffen Alain Rouvière und dessen Frau Monique, die – eine rare Ausnahme – den Hof übernehmen werden.
Die Normalität von abgelegenen Regionen
Im Bild des Schattenfalls eines winterlichen kahlen Baums auf das Gemäuer des alten Gehöfts im Departement Lozère, wo sie zu Hause sind, wird dessen großartige Schönheit deutlich. Wir sehen sie auch in der Natur, der Einsamkeit des kargen bäuerlichen Lands mit seinen leeren Straßen und Dörfern. Nur alte Menschen scheinen hier zu leben. Mit dem Fotografen beobachten wir sie bei der Arbeit, wie sie mit dem Ochsengespann den Dung auf dem Feld ausbringen oder die Schafe weiden.
Raymond Depardon: „Rural“. Edition Fondation Cartier 2020. 124 Seiten, 86 S/W-Fotografien. Thames & Hudson, 45 Euro.
Das klingt archaischer, als es ausschaut: nämlich selbstverständlich. So fotografiert es jedenfalls Depardon, das macht seine Bilder so stark. Sie zeigen die Normalität von Regionen, die für den Wintersport nicht hoch genug liegen, aber für Landwirtschaft als einem modernen, mit teuren Maschinen betriebenen, rentablen Geschäft zu abschüssig und kleinteilig sind.
Depardons Fotografien zeigen ein dem urbanen Frankreich und dem touristischen der Atlantik- und Mittelmeerküste unbekanntes Frankreich, ein vergessenes, aus dem Blick geratenes Frankreich: Die „Grande Nation als Niemandsland“, wie es einmal in der Zeit hieß. „Rural“ funktioniert dabei ein wenig wie eine Flaschenpost, wie ein längst von der Zeit überholtes SOS.
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