Künstlerische Antwort auf Fukushima: Im Land der 72 Jahreszeiten

Natur, Technik und Kultur Japans:„Tree and Soil“ von Antoinette de Jong und Robert Knoth im Museum Kulturspeicher Würzburg.

Foto einer im Wald gelegenen Straße, daneben getrocknete Pflanzenteile aus der sammlung des Würzburger Arztes von Siebold

Eine Seite aus „Tree and Soil“ von Antoinette de Jong und Robert Knoth Foto: Hartmann Books

Die vielschichtige Beziehung zwischen Natur, Technologie und Kultur, darum geht es bei „Tree and Soil“, einer Video-Installation und einem Buch; es ist die jüngste Kreation des international bekannten und vielfach ausgezeichneten Künstlerduos Antoinette de Jong (*1964) und Robert Knoth (*1963).

Auslöser des Langzeitprojekts war die Natur- und Atomreaktorkatastrophe in Fukushima, Japan. Am 11. März 2011 triggerte ein schweres Seebeben einen Tsunami. Gigantische Wellen überspülten den Atomreaktorkomplex Fukushima Daiichi, in den Reaktorblöcken kam es zur Kernschmelze. Das Gebiet um Ökuma in Japans Norden ist seither radioaktiv verstrahlt. Eine No-go-Zone.

Die Ausstellung läuft bis 24. Mai im Museum Kultur­speicher Würzburg. Digitale Liveführungen siehe: www.kulturspeicher.de. Robert Knoth & Antoinette de Jong: „Tree and Soil“. Hartmann Books, Stuttgart 2020, 112 Seiten, 42 Fotos, 47 Scans und Illustrationen, 45 €.

Die beiden Niederländer fotografierten und filmten über fünf Jahre in Fukushima. In dieser Zeit unternahmen sie sechs Reisen in das kontaminierte Gebiet, jeweils zu einer anderen Jahreszeit. „Wir wollten verstreichende Zeit visualisieren“, sagt Knoth am Telefon. „Japan kennt 72 Mikrojahreszeiten, nicht nur 4 wie wir. Leben im Rhythmus der Natur ist sehr bedeutsam in der japanischen Kultur.“

In der Jahreszeit Shosho blüht die Baumwolle

Die Jahreszeit Seimei beispielsweise kennzeichnen die Begriffe „klar“ und „hell“. Schwalben kehren zurück. Wildgänse fliegen nach Norden, die ersten Regenbögen sind zu sehen. In der Jahreszeit Shosho blüht die Baumwolle, nimmt die Hitze ab, reift der Reis.

Unterwegs in Japan suchten de Jong und Knoth einige der Menschen auf und interviewten sie, die damals ihre Heimat verlassen mussten. Insgesamt waren es 160.000. Sie streiften mit Geigerzählern durch die radioaktive Landschaft, vor allem Wälder, denn 70 Prozent des heute noch belasteten Gebiets besteht aus Wald.

Der Ort Ökuma, seine Häuser, seine Straßen und die umgebende Landschaft – menschenleer. Im Buch findet sich die Fotografie einer Tankstelle, noch immer brennt Licht im Trinkflaschendepot. Eine asphaltierte Straße ist vollkommen überwuchert. Die verstrahlte Natur greift Raum, drängt die einst so sorgsam gepflegte japanische Kulturlandschaft zurück.

Die Sammlung des Würzburger Arztes von Siebold

„Tree and Soil“ hat eine zweite Zeit- und Erzählebene: De Jong und Knoth verknüpften ihre eigene visuelle Arbeit in faszinierender Weise mit der Sammlung des Würzburger Arztes Philipp Franz Balthasar von Siebold (1796–1866). Sie befindet sich im Besitz des Museums Naturalis im niederländischen Leiden.

Zum historischen Kontext: Neben Schiffen aus China und Korea war es nur Holländern über den Handelsposten auf Dejima, einer kleinen Insel vor Nagasaki, erlaubt, Handel zu treiben mit dem abgeschotteten Japan. Von Siebold, mit dem Auftrag angereist, eine naturkundliche Sammlung anzulegen, hielt in Nagasaki Sprechstunden als Arzt ab und lehrte bald auch westliche Medizin.

Foto einer Straße mit herbstlich gefärbten Bäumen neben Illustration einer Ahorn-Pflanze

Eine Seite aus „Tree and Soil“ von Antoinette de Jong und Robert Knoth Foto: Hartmann Books

Während eines Besuchs in Leiden fand das Duo den Link. „Von Siebold zeigte sehr schön den Reichtum und den Wert der Natur und seine Liebe für Japan, für die japanische Landschaft. Er lebte zu Beginn des industriellen Zeitalters, die Wissenschaft entwickelte sich stark“, sagt Robert Knoth, wobei am Ende ein alles umwälzender Fortschritt auch zu so etwas wie der Katastrophe im Atomkraftwerk geführt habe.

Poetisches Kunstwerk und Entdeckungreise

Das Buch ist ein poetisches Kunstwerk und aufgrund des Designs außerdem eine kleine Entdeckungsreise: In „Tree and Soil“ finden sich Zeichnungen von Waldgeistern, Malereien zur Kultur Japans, Holzschnitte, Abbildungen von Flora und Fauna. Samen, Blumen, präparierte Insekten, Vögel, Kleintiere aus Siebolds Kollektion werden mit den Bildern des Fotografenpaars zu Fukushima verbunden.

Da sprudelt ein Bach, und Gärten verwildern im menschenlosen Raum. In einem kritischen Essay reflektiert Erik A. de Jong von der Universität Amsterdam schließlich über die technologische Entwicklung und unseren Umgang mit der Erde. Forschung, Einordnung, Erfindergeist, Wissenschaft, Machbarkeit – das war das Vorspiel zum Anthropozän, in dem unser Planet durch menschliches Handeln massiv gefährdet ist.

In den langen, ruhigen, überblendeten Einstellungen der Video-Installation finden sich Impressionen vom Wald. Es ist das Rauschen der Blätter im Wind zu hören, ein Klangteppich aus Vogel- und Kleintierstimmen, Schneeflocken wirbeln – man steht auf radioaktivem Boden, es ist eine kontemplative Erfahrung, ein Eintauchen in die Natur Japans. Ein Innehalten. Wunderschön. Unbequem.

In kurzen Texten wird eine tiefe Verbundenheit mit der Erde deutlich: Neben einem Shinto-Priester kommen in „Tree and Soil“ das Ehepaar Sadami & Hanayodes Kobayashi zu Wort. Sie wollten im selbstgebauten Haus alt werden. Am 11. März pflanzten sie einen Kirschbaum, um die Geburt ihres Enkels zu ehren. Sie freuten sich darauf, den Baum zugleich mit dem Kind wachsen zu sehen. In Japan symbolisiert der Kirschbaum Hoffnung.

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