Prozess in Schweiz: Mit Bierdosen und Gummigeschossen
Vor zwei Jahren kam es in der Schweizer Stadt Basel zu Zusammenstößen zwischen linken Demonstrant:innen und Polizeikräften. Nun beginnt der Prozess.
Am 24. November 2018 hatten sich rund 2.000 Demonstrant:innen in Basel versammelt, um gegen eine Kundgebung der rechtsextremen Partei National Orientierter Schweizer (PNOS) zu protestieren. Auch Clément Walter, dessen Name hier geändert wurde, war an der Gegendemo beteiligt, sogar seinen Vater habe er getroffen, der sonst nicht politisch aktiv sei, denn die Demo sei bunt gewesen: Junge und Alte, Politiker:innen und Aktivist:innen, Menschen aus verschiedenen Städten.
Sie wollten die zwei Dutzend Teilnehmer:innen der PNOS-Kundgebung vom Platz verdrängen, die von einem Großaufgebot der Polizei geschützt wurden. Damals Anwesende berichten von vereinzelten „Scharmützeln“ zwischen Polizist:innen, Gegendemonstrant:innen und PNOS-Anhänger:innen.
Dann löste sich ein Mann aus dem Gegendemozug, wie auf Videoaufnahmen aus den Ermittlungsakten zu sehen ist. Er tanzte mit erhobenen Händen herum und übertrat das Absperrband, das den Sicherheitsabstand zur Polizeikette markiert. Diese feuerte ein Gummigeschoss in die Gegendemonstration. Die Menschen liefen auseinander, es flogen Steine, Bierdosen und aufgehobene Gummigeschosse in Richtung Polizei.
Diese Stunden beschäftigen die Basler Justiz seit zwei Jahren – und werfen Fragen über ihre Unabhängigkeit auf.
Unscharfe Anklagepunkte
Überraschend nahm die Staatsanwaltschaft im Frühling 2019 die Ermittlungen gegen rund sechzig Gegendemonstrant:innen auf, seit Juli 2020 laufen die Verhandlungen. Auch Walter wird in Polizeigewahrsam genommen. Jetzt muss er vor Gericht. Die Anklage gegen ihn lautet: Landfriedensbruch, qualifizierte Gewalt und Drohung gegen Beamte und Behörden, versuchte Körperverletzung mit einem gefährlichen Gegenstand. Worauf genau sich die Anschuldigungen beziehen, wisse er nicht. Die Tatbestände sind weit gefasst.
Mit Landfriedensbruch etwa können Menschen belangt werden, die „an einer öffentlichen Zusammenrottung“ teilnehmen, bei der „mit vereinten Kräften gegen Menschen oder Sachen Gewalttätigkeiten begangen werden“. Dafür muss die Person nur anwesend sein.
Der emeritierte Strafrechtsprofessor Peter Albrecht sagt dazu: „Kriminalpolitisch ist der Landfriedensbruch dazu da, die Beweisfindung zu erleichtern. Denn Straftaten, die von einer Gruppe ausgehen, können die Behörden oft nicht einzelnen Personen zuordnen.“
Der Anklagepunkt „Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte“ und „versuchte Körperverletzung mit einem gefährlichen Gegenstand“ bezog sich in den bisherigen Verhandlungen auf Steine, Bierdosen und aufgehobene Gummigeschosse. Als Beweismittel dienen Videoaufnahmen der Polizei und DNA-Spuren auf Gegenständen.
Auch dieser Anklagepunkt lässt Raum für Interpretationen: Bei einer Verhandlung wurde diskutiert, ob eine leere Bierdose ein gefährliches Geschoss gegen einen Polizisten in Vollmontur sei. Das Gericht entschied: nicht gefährlich genug, um den Tatbestand der „versuchten Körperverletzung“ zu erfüllen.
Polizeieinsatz mit Härte
Gleichzeitig war der Polizeieinsatz an dem Tag und der Einsatz von Gummischrot bisher kein entscheidendes Thema in den Verhandlungen. Einer der Angeklagten wurde vom Gummigeschoss am Auge getroffen und hat bleibende Schäden erlitten. Einzig bei ihm wirkte der Einsatz strafmildernd.
Kurz vor seiner Verhandlung gelangte ein Video aus den Ermittlungsakten an die Öffentlichkeit. Darin sind mutmaßlich zwei Polizisten zu hören: „Die Steine wären nicht geflogen, wenn wir nicht Gummi gegeben hätten.“ – „Haben Sie zuerst Gummi gegeben?“ – „Ja.“ – „Wieso?“ – „Als Ablenkung, damit die PNOS-Leute wegkönnen.“ Das Basler Justizdepartement nimmt zu diesem Material keine Stellung.
Gegen die Polizei wurde wegen dieses Einsatzes von Gummischrot bereits Anklage erhoben, ebenso gegen die Veranstalter der PNOS-Kundgebung, wegen eines möglichen Vergehens gegen die Rassismus-Strafnorm. Beide Verfahren sind noch anhängig.
Acht Monate Haft wegen Landfriedensbruch
Obwohl die Verfahren gegen die Gegendemonstrant:innen denselben Vorfall betreffen und die Anklagepunkte bei vielen identisch sind, werden sie einzeln geführt anstatt in einer Sammelklage. Ihre Anwält:innen kritisieren dieses Vorgehen, etwa der Anwalt Amr Abdelaziz: „Wenn mein Klient an der Reihe ist, wird das Gericht schon so viele Urteile gefällt haben, die sich auf dieselben Anklagepunkte und denselben Vorfall beziehen, dass die Entscheidung eigentlich schon gefallen ist. Sonst würde das Gericht widersprüchlich urteilen.“
Als Anwalt sei er nur dazu da, den Anschein eines fairen Prozesses zu erwecken. Er sieht das Recht auf ein unvoreingenommenes Gericht und auf rechtliches Gehör möglicherweise verletzt. Die Staatsanwaltschaft äußert sich nicht zu dem Vorgehen. Das Gericht erklärte, es bestehe kein Grund, die Verfahren zu vereinen.
Bisher wurden 13 Urteile gefällt: Die meisten Angeklagten wurden zu Haftstrafen zwischen sieben und 14 Monaten auf bis zu vier Jahre Bewährung verurteilt. Freigesprochen wurde niemand. Das bisher härteste Urteil lautet acht Monate Haft ohne Bewährung wegen Landfriedensbruch und passiver Teilnahme an Gewalt. Der Demonstrantin konnte nicht nachgewiesen werden, dass sie selbst Gewalt ausgeübt hat, nur, dass sie sich nicht entfernte.
Nach diesem Urteil ging eine Welle der Empörung durch die Schweizer Presse. Der Richter der sozialdemokratischen SP rechtfertigte das Urteil in einer Lokalzeitung. Der Angeklagten sei „keine günstige Prognose“ zu stellen, da sie vor Gericht zu der Demonstration gestanden habe, in der Szene bekannt sei und noch andere Verfahren gegen sie anhängig seien.
„Das überzeugt mich nicht“, sagt Strafrechtsprofessor Albrecht. „Die Verfahren haben noch nicht zu einem rechtskräftigen Schuldspruch geführt, es gilt die Unschuldsvermutung.“ Zudem sei es nicht zulässig, allein von einer politischen Haltung auf eine Rückfallgefahr zu schließen.
„Linke Bewegungen einschüchtern“
Auch andere Verteidiger:innen in dem Verfahren sahen die Vorverurteilung ihrer Mandant:innen in einem öffentlichen Brief durch den vorschnellen Gang des Richters an die Presse bestätigt. Einzelne reichten ein Gesuch ein, um zu bewirken, dass das Basler Gericht den Fall wegen Befangenheit an ein außerkantonales Gericht abgeben muss. Das Gesuch wurde abgelehnt.
Sowohl Verteidigerin Eva Schürmann als auch Albrecht beobachten eine Tendenz in der Basler Justiz hin zu strengeren Urteilen und repressiverem Vorgehen. „Es scheint, als wolle man insbesondere linke Bewegungen einschüchtern“, sagt Schürmann. In den vergangenen Jahren wurden linke Aktivist:innen mehrmals wegen Landfriedensbruchs zu hohen Strafen verurteilt. Die Staatsanwaltschaft arbeite zudem vermehrt mit Untersuchungshaft und Hausdurchsuchungen.
„Der Einschüchterungsversuch hat nicht funktioniert“, sagt Walter. Eine Kampagne des „Bündnis Basel Nazifrei“ begleitet die Prozesse. Vor jeder Verhandlung sammeln sich einige Dutzend Menschen vor dem Gericht, um ihre Solidarität zu bekunden, eine Spendenkampagne sammelt Geld, um die Gerichtskosten zu decken.
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