piwik no script img

Was wirklich wichtig istLeidvergleich

Wir werfen anderen vor, sich nicht um das Wichtige zu kümmern. Aber wir erreichen nichts, wenn wir einander vorhalten, was wir zu fühlen haben.

Es gibt kein Leidbarometer, sagte die Mutter unserer Kolumnistin Foto: Tom Chance/Westend61

N eulich musste ich eine Übung für meinen Therapeuten machen. Ich sollte über mein Leben nachdenken, die wichtigsten Stationen aufschreiben und dazwischen ebenso wichtige Ereignisse notieren, die aber nicht zwingend von zeitgeschichtlicher Bedeutung waren.

Ich überlegte wie ich Genozid, Tod meines Vaters, Missbrauch, Liebeskummer und erste große Liebe einordne. Gut die beiden letztgenannten sind nicht von zeitgeschichtlicher Bedeutung, aber mir trotzdem wichtig. Ich schämte mich für den Gedanken und danach fragte ich mich: Wieso bin ich so streng mit mir?

Es gibt kein Leidbarometer, sagte meine Mutter immer früher und meinte damit, dass man sich nicht mit anderen vergleichen sollte. Manche Menschen werden durch den Tod ihres geliebten Meerschweinchens Toni genauso aus der Bahn geworfen wie andere durch den Tod ihres Onkels. Jetzt habe ich sowohl Meerschweinchen Toni als auch einige Onkel verloren und vergleiche meine eigene Trauer ­ständig.

Manchmal bin ich erschüttert, dass mir der Tod eines Promis, wie zuletzt Kobe ­Bryant, manchmal näher geht als bei manch einem Verwandten. Und manchmal bin ich genervt, dass ich von mir selbst genervt bin, weil mir etwas nicht so nahegeht, wie es mir eigentlich gehen sollte.

Viele Dinge können gleichzeitig stimmen

Wenn wir schon so hart mit uns selbst ins Gericht gehen – kein Wunder, dass wir anderen Leuten ständig vorwerfen, falsche Prioritäten zu haben oder sich nicht um das Richtige und Wichtige zu kümmern. Ich scrolle durch Twitter und mein Gefühl wurde bestätigt. Die einen ließen sich über den Clip #besonderehelden der Bundesregierung zur Pandemie aus und wieder andere sagten, dass der Clip doch gar nicht schlecht sei und die Zielgruppe erreiche (stimmt). Wieder andere kritisierten die Kriegsrhetorik im Video und dass man sich mehr darum schert als um die Armenier*innen, die in einem echten Krieg umgebracht und verschleppt werden (stimmt).

Einige wenige sprechen darüber, dass kaum eine*r über den Konflikt in Tigray und das Enthaupten von 50 Menschen durch Islamisten in Mosambik spricht (stimmt). Wieder andere regen sich darüber auf, dass wir alle nur über diesen einen Satiriker und seine regelmäßigen unterirdischen Provokationen sprechen (stimmt auch wieder).

Der Punkt ist: Viele Dinge können gleichzeitig stimmen und Menschen suchen sich nun mal das aus, was ihre Aufmerksamkeit bekommt, und das müssen wir aushalten können. Wir können uns kritisieren und wir dürfen auch wütend sein, wenn Menschen für uns wichtige Ereignisse ignorieren. Vor allem, wenn diese Ignoranz eine lange Historie hat. Und erst recht, wenn es um Krieg geht. Aber wir erreichen nichts, wenn wir uns ständig vorhalten, was wir wann wie zu spüren und fühlen haben. Ich fang mal bei mir an.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Anna Dushime
Journalistin, Speakerin und freie Kreative. Kolumne: "Bei aller Liebe". Foto: Pako Quijada
Mehr zum Thema

3 Kommentare

 / 
  • Leid verlangt nach der Frage, wie es entsteht und was man tun kann.



    Leid ist kein Wert und macht Menschen nicht besser.

  • Ich danke Ihnen für diesen wundervollen Artikel. Endlich ein solcher! Ich wünsche mir, dass wir uns Menschen auf dieser Ebene wieder begegenen. Ein jeder spricht über seine Wahrnehmungen und Gefühle. Wir würden feststellen, dass wir so verschiedenen gar nicht sind. Ja, das macht scheinbar verletzlich, aber widerum auch nicht. Denn wir erhalten auf diese Weise viel mehr. Leider fühle ich in diesen Tagen viel mehr Abwendung von dem was uns Menschen ausmacht. Diese Abwendung offenbart sich extrem in Zeiten der Pademie und stellt uns in den verschiedenen Zusammenhängen vor Augen, dass etwas nicht passt. Wer redet schon über seine Angst an einer Krankheit zu sterben. Vielmehr sagen wir, jeder Menschen birgt die Gefahr meines irdischen Endes.

  • 0G
    05838 (Profil gelöscht)

    Mir fehlen im Alltag die laufenden Bilder des Fernsehers und damit auch die gekünstelte Nähe zu Ereignissen, die gar nicht in meiner Nähe sind. Ich verzichte halt bewusst auf den Fernseher, der mir emotional vorzugauckeln sucht, dass Ereignisse in Tausenden Kilometern Entfernung mit Menschen, die ich nicht kannte, mir näher gehen sollten als das goldige Lachen des Nachbarjungen Martin oder die Behinderung meines Nachbarn. Gelesene Nachrichten, selbst solche, die mit Bildern untermalt sind, nimmt man anders wahr als die laufenden in Videos oder Fernseher.