piwik no script img

Nationalpark Unteres OdertalGefährdete Wildnis

25 Jahre nach seiner Gründung hat sich der Nationalpark als Erfolgsgeschichte erwiesen. Doch nun ist die Idylle durch den Ausbau der Oder bedroht.

Zwei Singschwäne am Himmel über dem Nationalpark Unteres Odertal Foto: Klaus-Dietmar Gabbert/ddp

Criewen, morgens um sieben. Dichter Nebel kriecht über die Wiesen. Die Luft ist klar und kalt. Und es ist windstill. „Ideale Bedingungen, um die Hirsche röhren zu hören“, verspricht Christian Ehr­ke, Ranger von der Naturwacht, und stapft los. Vom Besucherzentrum des Nationalparks aus geht es über die Oder und weiter in Richtung Raduner Platte. Dort haben sich durch Sand­auf­schwem­mungen rund um den Fluss trockene Gebiete entwickelt, in denen Wald hochgewachsen ist.

„In dem können sich Hirsche gut verstecken“, sagt Ehrke. Tatsächlich: Nach einer halben Stunde ist es mit der Stille vorbei. Unheimliche Geräusche sind zu hören. Ein auf- und abschwellendes Rumoren. Sehnsuchtsvoll, geradezu verzweifelt hört es sich an, wie die männlichen Tiere versuchen, sich gegenseitig mit ihren Lockrufen zu übertönen. „Es ist ihre Art, möglichst viele Weibchen für sich zu reservieren“, erklärt der Ranger. „Die Hirschkühe gehen instinktiv davon aus, dass der, der am lautesten brüllt, auch die besten Gene an die Nachkommen weitergibt.“

Zwei Rudel weibliche Tiere sollen hier gerade unterwegs sein, um die vier kapitale Hirsche buhlen. Sie sollen auch mit ihren Geweihen auf­ein­ander losgehen, manchmal sogar ein Hirsch zu Tode kommen. Auch wenn man das nicht zu sehen bekommt – den lautstarken Song-Contest vergisst man nicht so schnell.

Nach den Hirschen mischen die Kraniche die Stille im Na­tio­nal­park auf, wenn sie hier zu Tausenden auf ihrem Flug nach Süden Station machen. Danach schlagen wiederum die Singschwäne ihr Winterquartier auf, um in den folgenden Monaten die Landschaft mit ihren durchdringenden, grellen Rufen zu überziehen. Zu jeder Jahreszeit gibt es im Unteren Odertal im Nordosten Brandenburgs etwas zu sehen und zu hören. Wer zu Fuß, mit dem Fahrrad oder Kanu unterwegs ist, kann sich davon überzeugen, dass es dem Nationalpark im 25. Jahr seines Bestehens gutgeht.

Herzstück ist die etwa 50 Kilometer lange, aber nur 3,5 Kilometer breite Auenlandschaft um die Oder im deutsch-polnischen Grenzgebiet. Charakteristisch sind die Polder, die regelmäßig überflutet werden und der Lebensraum vieler seltener Tier- und Pflanzenarten sind. Hunderte von Vogelarten brüten hier, um die 250 machen auf der Durchreise Station. Kampfläufer, Brachvögel, Bekassine schwirren mitunter durch die Lüfte, außerdem hat sich die deutschlandweit größte Population von Wachtelkönigen mit 200 rufenden Männchen ihren Lebensraum zurückerobert.

Ein generationenübergreifendes Projekt

Nachdem früher Flussläufe begradigt, Moore entwässert und Flächen für die Landwirtschaft nutzbar gemacht wurden, wurde die Kulturlandschaft in die Wildnis entlassen. „Natürlich ist das ein genera­tio­nen­übergreifender Prozess, der Hunderte oder Tausende von Jahren in Anspruch nimmt“, räumt Nationalparkleiter Dirk Treichel ein. „Aber als Besucher können Sie schon jetzt Zeuge dieser Entwicklung werden und auf relativ kleinem Raum auch eine große landschaftliche Vielfalt erleben.“ Hier von Seerosen bedeckte Altwässer, dort Feuchtwiesen mit Schilfgürteln, urwüchsige Auenwälder oder von Adonisröschen überzogene Oder­hänge. Hin und wieder verwandeln sich die Flutungspolder auch in eine so große Wasserfläche, dass die Menschen ringsum von „Schwedt am Binnenmeer“ sprechen.

Heute sind sie stolz auf Deutschlands einzigen Auen-Nationalpark vor ihrer Haustür. Und dessen Bilanz fällt tatsächlich positiv aus. Das langwierige Flurbereinigungsverfahren, bei dem private Nutzer durch Ausgleichsflächen entschädigt werden, ist so gut wie abgeschlossen. Die Hälfte der Flächen, etwa 2.300 Hektar, sind inzwischen nutzungsfrei und zu Wildnis­zonen geworden, in denen sich die Natur frei entfalten kann.

Allerdings war das eine schwere Geburt. Dirk Treichel erinnert sich nur ungern an die Anfangszeiten: „Es hagelte Proteste von allen Seiten. Von Jägern, Anglern, Landnutzern“, meint er. „Reizthema war auch das Baden, das anfänglich komplett verboten war.“ Mit dem novellierten Nationalparkgesetz von 2006 sei man aber von den früheren strengen Dogmen abgekommen und habe eine maßvolle touristische Nutzung ermöglicht.

Kanutouren und Reitwege

Neben Badestellen wurden Reitwege angelegt. Der Oder-Neiße-Radweg lädt dazu ein, am Fluss entlangzuradeln, von Ende der Brutzeit Mitte Juli bis Mitte November sind auch Kanu­tou­ren erlaubt. Und Besucher, die mit der Geografin und Landschaftsführerin Frauke de Vere Bennett durch das Labyrinth von Wasserläufen paddeln, wo sich Libellen in der Luft paaren, um kurz darauf ihr Ei auf die Blätter der Sumpfkresse abzuschießen, kommen regelmäßig ins Schwärmen.

Dennoch kann sich Dirk Treichel nicht so recht über den Erfolg des Nationalparks freuen. Das Problem ist nicht, dass sich eine Großraffinerie und ein weiterer Industriebetrieb in der Nähe befinden. Seine Sorge gilt dem geplanten Ausbau der Oder, den Polen auf seinem Territorium vorantreibt. Dazu sollen Buhnen, Steinwälle, die um 1920 in der Oder angelegt wurden und mittlerweile ausgewaschen oder zerstört sind, erneuert werden. Offiziell soll das den Einsatz von Eisbrechern ermöglichen, die die Region vor Hochwasser schützen sollen. Dabei ist es ein offenes Geheimnis, dass hinter den Maßnahmen Pläne stehen, die Oder für den Schiffsverkehr auszubauen.

Bisher fährt hier kaum ein Schiff, wegen des Niedrigwassers ist die Oder meist von Mai bis September für den Schiffsverkehr gesperrt. Und Experten zufolge macht es wenig Sinn, dafür das Flussbett einzuengen und zu vertiefen. Denn dadurch würde sich die Fließgeschwindigkeit erhöhen, was Auswirkungen auf die Umgebung hätte. „Wenn der Ausbau erfolgt, werden Sie den Fluss, der einer der naturnahsten Europas ist, nicht wiedererkennen“, prognostiziert Treichel, der bedauert, dass es auf polnischer Seite keinen Nationalpark, sondern nur zwei Naturparke gibt, die nicht so streng geschützt sind.

Aus seiner Sicht sind die polnischen Pläne nicht mit der Wasserrahmenrichtlinie und den Naturschutzrichtlinien der Europäischen Union vereinbar. Dennoch legte die polnische Regierung im März einen Umweltbescheid vor, nach dem dann die Genehmigung erteilt wurde, schon in diesem Jahr mit Ausbauarbeiten im Bereich Slubice gegenüber von Frankfurt (Oder) zu beginnen, denen 2023 massive Baumaßnahmen zwischen Hohensaaten und Criewen folgen. Nicht nur 60 derzeit verfallene Buhnen will man rekonstruieren, sondern auch Längs­dämme errichten, die die Buhnenköpfe verbinden.

Widerspruch eingelegt

Dagegen hat das brandenburgische Umweltministerium Widerspruch eingelegt. Allerdings mit wenig Hoffnung auf ein Umdenken. Auch von der Bundesregierung kann sie keine Hilfe erwarten. Denn 2015 hat der damalige Verkehrsminister mit dem polnischen Umweltminister ein Wasserstraßen-Abkommen über die Beseitigung der Schwachstellen an den Buhnen geschlossen. Obendrein haben die Weltbank und die Europäische Union finanzielle Mittel für den Hochwasserschutz bereitgestellt. Eine verfahrene Situation.

So liegt jetzt der Ball bei den Umweltverbänden, die seit Langem gegen den Ausbau der Oder protestieren. „Das geplante Vorhaben liegt nach unserer Überzeugung eindeutig nicht im öffentlichen Interesse, da die Notwendigkeit der Schaffung von Schiff­fahrts­bedingungen für den Hochwasserschutz durch Eisbrecher nicht nachgewiesen wurde. Vielmehr wurde darauf hingewiesen, dass die Eisbrecher bisher zuverlässig operieren konnten und nicht durch zu geringe Fahrwassertiefen daran gehindert wurden“, kritisierte der Geschäftsführer des Deutschen Naturschutzrings Florian Schöne stellvertretend für BUND, Nabu, WWF und weitere Verbände.

Sie weisen auch darauf hin, dass Alternativen mit wesentlich geringeren Umweltauswirkungen, wie der Einsatz von Amphibex-Schwimmbaggern aus Kanada, nicht ausreichend geprüft wurden. Voraussichtlich werden die Verbände gemeinsam vor dem Europäischen Gerichtshof gegen die Pläne klagen. Doch bis dort ein Urteil ergeht, können Jahre vergehen – in denen die polnische Regierung schon mal Fakten schafft.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!