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100-jährige ZwillingsschwesternUnd am Abend ein Glas Bier

1920 wurden die Zwillingsschwestern Anna Zitzelsberger und Katharina Schwarzbauer geboren. Ein Besuch im Bayerischen Wald.

Die hundertjährigen Zwillingsschwestern mit zwei Verwandten Foto: Patrick Guyton

Ach, der Rollator, den will Katharina Schwarzbauer nicht mitnehmen auf dem Weg in den Garten. „Ich kann ohne den Wagen laufen“, sagt sie zu ihrer Nichte, die beiden fassen sich an der Hand. Auch Schwarzbauers Schwester Anna Zitzelsberger ist noch zu Fuß unterwegs, aber etwas schwerfälliger. Jetzt lässt sie sich lieber im Rollstuhl schieben. Seit Anfang August sind sie in einem Doppelzimmer untergebracht im Pflegeheim St. Laurentius in Ruhmannsfelden, Landkreis Regen, Bayerischer Wald.

Die Schwestern sind Zwillinge und wurden am 4. Mai 1920 geboren. Sie sind Hundertjährige, und sie leben beide noch. Ihre Jahrhundertleben lang waren sie immer eng miteinander verbunden. Auf die Frage, wie es geht, sagt Katharina Schwarzbauer: „Ich bin pumperlgesund.“ Es ist ein schöner, noch warmer Herbsttag. Die beiden Töchter von Zitzelsberger sind sie besuchen gekommen, wie mehrfach in der Woche. Die Marktgemeinde mit ihren 2.000 Einwohnern liegt im Osten Bayerns, die Gegend ist geprägt von Wald, viel Wald. „Ich war nie groß krank“, meint Katharina Schwarzbauer und zuckt mit den Schultern. So viel zum Thema, wie man 100 wird, und das als Zwillinge. Die Schwester sagt kaum etwas, sie ist sehr schwerhörig.

Im Bayerischen Wald waren die Menschen früher bitterarm, die Gegend lag abgeschieden, es ging rau zu. Viel Schnee, die Sommer waren kurz. Die Schwestern wurden als die jüngsten von elf Kindern einer Bauernfamilie geboren, die Leute lebten hauptsächlich von der Land- und Forstwirtschaft. Der Hof gehörte zum Dorf Oberried und lag mitten im Wald. „Eine Stunde sind wir in die Schule gelaufen, in Holzschuhen“, erzählt Katharina Schwarzbauer. „Und eine Stunde wieder zurück.“ Der Schnee reichte manchmal nicht nur bis zu den Knien, sondern bis ans Becken, sie deutet es mit der Hand an. Nach der Schule trieben sie die Kühe auf die Weide und am Abend wieder zurück in den Stall.

Diese Kindheit und Jugend zeigen eine heute archaisch wirkende, lange schon versunkene Welt auf dem Land. „Ich habe meine Jugend im Wald verbracht“, sagt Schwarzbauer. Und: „Ich habe immer Holz gehauen.“

Alte Zwillinge

Wie viele hundertjährige noch lebende Zwillinge es in Deutschland gibt, ist nicht erfasst, das Statistische Bundesamt führt dazu keine Erhebung. 2016 wurden zwei britische Schwestern im Alter von 100 Jahren und 8 Monaten als älteste Zwillinge der Welt ins Guinnessbuch der Rekorde eingetragen. Es gibt Berichte über zwei Hundertjährige in der Bretagne und zwei Brüder im nordrhein-westfälischen Brühl. Eine große Seltenheit ist es sicherlich, auch wenn die Bevölkerung immer älter wird und das Statistikamt in Wiesbaden Ende 2019 insgesamt 9.795 Hundertjährige in Deutschland gezählt hat. (pat)

Tatsächlich ist ihr niederbayerischer Dialekt so stark, dass die beiden Nichten Margot Wagner und Christine Haimerl immer wieder übersetzen müssen. Der Vater der Zwillinge war nicht nur Bauer, sondern auch Wilderer, erzählt die 100-Jährige und lächelt verschmitzt. Die erlegten Tiere verkaufte er schwarz an die umliegenden Gasthöfe, wie das so üblich, aber nicht legal war.

Nach sieben Jahren war Schluss mit der Schule, die Mädchen wurden als volle Arbeitskräfte auf dem Hof gebraucht, 1933 war das. Vom Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg haben die Schwestern manches in Erinnerung. Sie erzählen die Geschichte, dass Geflüchtete gekommen waren. Ein Pole wurde versteckt und arbeitete in der Landwirtschaft mit. Das hat jemand dem Gauleiter gemeldet, die Gendarmerie holte den Polen. Was aus ihm wurde, erfuhren sie nicht. Oder: Nach Kriegsende quartierten sich amerikanische Soldaten ein. Die Schwestern hätten Angst vor ihnen gehabt – „aber sie waren sehr nett“.

Sie sind zwei kleine, zartgliedrige Frauen. Weihnachten 2019 stürzte Anna Zitzelsberger im Alter von 99 Jahren und 8 Monaten in ihrem Haus. Sie erlitt einen Beckenbruch. Kurze Zeit darauf fiel die Schwester hin und brach sich die Brustwirbelsäule. Vom Krankenhaus kamen die beiden, wenige Monate vor ihrem 100. Geburtstag, in eine 20 Autominuten entfernte Pflegeeinrichtung. Die haben sie in keiner guten Erinnerung.

Gertrud Wagner, die 65-jährige Tochter und Nichte, hat aufgeschrieben, was ihnen in dieser Zeit widerfahren sein soll. Dabei haben Wagner und die Schwester Christine Haimerl volles Verständnis für das zeitweise bestandene Besuchsverbot wegen Corona. Doch die Situation war, so sagen sie, auch davor und danach gleich. So habe das Pflegepersonal in dem Heim die Schränke im Zimmer der Schwestern zugesperrt und den Schlüssel weggenommen – mit der Begründung, so Wagner, dass sie „die Wäsche durcheinanderbringen“. Christine Haimerl meint: „Sie brauchen es, in ihrer Wäsche zu kruschteln.“ Auch seien ihrer Mutter die Stricksachen weggenommen worden. Katharina Schwarzbauer sagt: „Da waren wir eingesperrt.“ Die Leitung des Heims weist die Vorwürfe gegenüber der taz zurück. Die Kleidung im Schrank habe regelmäßig zu erheblichem Streitigkeiten zwischen den Bewohnerinnen geführt, heißt es in einer Stellungnahme. Das Wegsperren habe „dem Schutz“ einer Bewohnerin gedient.

Schön und grausig

Alois Zitzelsberger, der Mann von Anna, kam mit abgerissenen Beinen aus dem Zweiten Weltkrieg. Erst war er in Russland, dann in Serbien. Als der Krieg aus war, sollten die Soldaten von dort aus nach Hause. Auf der Heimfahrt wurde er vom Zug überfahren. Josef Schwarzbauer, Ehemann von Katharina, betrieb den Hof bis 1960. Und er verdiente Geld als Musiker – in einem Volksmusik-Ensemble spielte er Trompete.

Es sind schöne Geschichten, und es sind grausige Geschichten, die die Schwestern erzählen. Waffen gab es viele im Bayerischen Wald. Ihr ältester Bruder kam ums Leben, als ihn ein Gastwirt aus Versehen erschossen hatte. Ein anderer Verwandter wiederum war bei einem Neujahrsschießen erschossen worden, auch ein Unfall.

Schwarzbauer nähte zehn Jahre lang in einer Gardinenfirma. Oft wurde bis in die Nacht hinein Böhmisch Watten gespielt und Zwicken – bayerische Kartenglücksspiele, die kaum mehr bekannt sind. „Wir haben immer um Geld gespielt, manchmal um viel Geld“, sagt die Hundertjährige entschieden. „Und danach gab es eine saure Milchsuppe“ – eine Speise aus der bäuerlichen Küche.

Andere Länder haben sie auch gesehen, mit Busreisen nach Österreich und Italien. Anna Zitzelsberger hat sechs Kinder, die alle noch leben, und zwölf Enkel. Katharina Schwarzbauers drei Kinder sind schon gestorben – der erste Sohn im Alter von einem Jahr an Diphtherie, der zweite mit 21 bei einem Verkehrsunfall, und die Tochter war 40 Jahren alt, als sie einem Krebsleiden erlag.

Im neuen Heim St. Laurentius machen die Hundertjährigen viel mit beim Basteln, Singen oder Tanzen. Sie stricken und lesen die Lokalzeitung, den Viechtacher Bayerwald-Boten. Sie fühlen sich sehr wohl. Mit den Verwandten gehen sie regelmäßig eine Runde spazieren, kaufen Schuhe oder setzen sich auf einen Kaffee und einen Kuchen ins Café Mader. Abends schauen sie fern und trinken manchmal ein Glas Bier.

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3 Kommentare

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  • Tolle Geschichte. Ich hatte als Schüler gern meiner Oma gelauscht. Sie wurde 1895 geboren und erzählte natürlich auch von ihrer Oma, die wiederum 1830 geboren wurde. Quasi fast Life-Schalte. Noch weiter zurück nennt man Hörensagen. Und wenn Oma sagte, daß ihre Oma von ihren Vorfahren erzählte, hörte man schon ins 18. Jahrhundert hinein. Ich fand das immer faszinierend.

  • Sehr schön. Toll, so etwas zu erleben.



    Danke für den Bericht an die taz.



    Den beiden Damen alles Gute und vielen Dank, dass sie bereit waren, ihre Geschichte zu erzählen.

  • Na dann - Auf die nächsten...