Der Hausbesuch: Gemeinsam eigen
Jasmin und Evelyn schwanken zwischen dem Gemeinsamen, dem Eigenen und dem Bereich dazwischen. Sie sind eineiige Zwillinge.
Ein Stück Schokolade liegt auf einem Teller, es ist noch übrig – keine der Zwillingsschwestern will es nehmen. „Da ist immer direkt der Gedanke: Wenn sie das Stück nicht bekommt, macht mich das traurig“, sagt Jasmin, Evelyn nickt. Die beiden 23-Jährigen haben immer alles geteilt.
Draußen: Ruhig ist es vor dem Haus in Berlin Kreuzberg. Eben noch U-Bahn- und Verkehrsrauschen, geschäftige Obststände und Dönerläden, Menschen, die auf der Straße vor Kiosken sitzen. Und jetzt zwölf ausladende Ahorn-Bäume, pedantisch im Kreis angeordnet. Außenherum parken Autos am Kopfsteinpflasterstraßenrand und ein paar Fahrräder. Die Baumkronen spenden Schatten, wenn man sich auf eine der acht Bänke setzt.
Gerade kommt niemand auf die Idee, nur ein Mann flüchtet kurz vor der Sonne und wirft im Stehen einen Blick auf sein Handy. Abends chillen hier oft ganze Gruppen und hören laut Musik“, sagt Jasmin, als sie aus ihrem Fenster blickt. Gestört fühlt sie sich davon nicht. „Viel mehr stört, dass der Späti da drüben zumachen muss.“
Drinnen: Die Wohnung, in der sie mit ihrer Zwillingsschwester Evelyn wohnt, ist im Kreis angeordnet: Wer direkt nach der Wohnungstür nach rechts biegt, steht in Jasmins Zimmer, von dort gelangt man in Evelyns, von dort zurück in den Flur und dann in die Küche. Jasmin kommt gerade von ihrer Schicht in einem Café nach Hause, dort verkauft sie frische Waffeln, um neben dem Studium Geld zu verdienen.
„Wir haben extra aufgeräumt“, sagt sie. Es ist sehr ordentlich, sauber, schlicht, weiß. Neun Paar weiße Sneaker stehen im kleinen Schuhregal im Flur. Eine weiße Tagesdecke mit feinen Riffeln liegt über jedem der beiden Betten, fein säuberlich ausgebreitet ohne eine Falte. Die Decke hat Jasmin Evelyn nachgekauft. Sie finden beide, dass sie einen ähnlichen Stil haben. Und die gleiche Auffassung davon, wie sauber die Küche sein soll.
In Jasmins Zimmer lehnt ein rotes Rennrad an der Wand, ein Geschenk ihres Freundes. Direkt neben dem linken Kopfende von Evelyns Bett hängt ein rotes Filmplakat von „Les Amours Imaginaires“ – darüber hat sie eine Rezension für ihre Bewerbung in der Filmagentur geschrieben, in der sie dann gearbeitet hat.
Schwestern: Länger als vier Wochen waren die beiden 23-Jährigen noch nie getrennt. Da war Evelyn für ein Auslandspraktikum in Paris. „Das kam mir lang vor“, sagt Jasmin. Gewohnt haben sie bisher immer gemeinsam. Zunächst mit ihrer Mutter in Hannover, bis zum sechsten Lebensjahr teilten sie sich sogar ein Zimmer. Nach dem Abitur sind die Schwestern gemeinsam nach Berlin gegangen.
Seit drei Jahren leben sie in dieser Wohnung, Jasmin überlegt, mit ihrem Freund zusammenzuziehen. „Aber unser Wunsch ist es, für immer in derselben Stadt, eigentlich in derselben Straße zu wohnen“, sagt Jasmin. Dass das Leben manchmal andere Geschichten schreibt, dass es sich nicht immer genau so ergibt, wie man es gern hätte, ist beiden bewusst.
Die Mitte der Nacht: Evelyn und Jasmin sind eineiige Zwillinge, die Geburt war rund um Mitternacht. An einem 24. April wurde Evelyn geboren, am Tag darauf Jasmin. „Der Arzt im Krankenhaus wollte für beide dasselbe Datum aufschreiben“, sagt Evelyn. „Aber unsere Mutter wollte, dass jede ihren eigenen Tag hat.“ Die jungen Mutter hat, das sagen beide Töchter, während der gesamten Zeit ihres Aufwachsens beiden eigene Aufmerksamkeit geschenkt. Gleichzeitig habe sie es auch geliebt, den beiden dieselben Kleidungsstücke anzuziehen, das Gemeinsame zu betonen.
Dieser Text stammt aus der taz.am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Genau dazwischen schwanken auch Jasmin und Evelyn in ihrem Zwillingsdasein, zwischen dem Gemeinsamen, dem Eigenen und dem Bereich dazwischen. Oft ist das Eigene auch das Gemeinsame. Vielleicht ein Zweigenes. Zusammen sein wollen, sich bewundern, sich gönnen, mithalten wollen, sich lieben, sich abgrenzen, sauer sein, wenn ein Lehrer die Schwestern miteinander vergleicht.
Kein Spiegel: So ähnlich finden sie sich selbst aber gar nicht. Nur die Stimme, meint Jasmin. Wenn ihre Mutter anruft, weiß selbst die nicht, mit welcher der beiden Töchter sie spricht. „Ich denke nicht so viel darüber nach, dass wir ähnlich aussehen“, sagt Evelyn. „Wenn ich meine Schwester anschaue, ist es für mich nicht so, als würde ich in einen Spiegel blicken. Sie ist die Person, die ich sehe.“
Die Zwillinge haben es nie ausgenutzt, dass andere Leute sie nicht auseinanderhalten können. Für sie war immer klar, dass das auffliegen würde. „Wir sind ja eigene Personen“, sagt Jasmin. Aber vielleicht haben sie sich nur nicht getraut, „vielleicht sind andere Zwillinge auch einfach cooler als wir“.
Besonders: „Ich glaube, ich sehe doppelt“, ist ein häufiger Spruch auf Partys. „Da denken alle, sie seien originell und wir würden das zum ersten Mal hören, das ist natürlich nicht so“, sagt Jasmin. Wenn sie irgendwo zusammen sind, werden sie oft angesprochen. Sie finden das ganz schön. „Wenn Leute ganz normal mit uns sprechen, dann freuen wir uns“, sagt Evelyn. Sie selbst tun das sogar auch manchmal, wenn sie andere Zwillinge sehen; denn besonders ist es eben doch immer.
„Man sollte jedem Zwilling das Gefühl geben, dass man ihn oder sie nicht auf das Zwillingsein reduziert“, finden sie. Unangenehm wird es für sie beispielsweise auf einer Geburtstagsparty, wenn sich das Gespräch den ganzen Abend nur um sie als Zwillinge dreht. Dann gibt es immer wieder auch solche Fragen: „Wenn ihr Zwillinge seid, habt ihr dann auch denselben Freund?“ „So was fragt man nicht“, sagt Evelyn. Das geht ihr zu weit.
Vergleichen: Dass sie das Verhalten ihrer Lehrer als so einschneidend empfunden haben, sei auch dieser Lebensphase geschuldet. „Man sucht da noch seine Identität“, erklärt Jasmin. Für die meisten Lehrer existierten sie nur im Doppelpack. „Sister Act“ wurden sie genannt. Wenn es die Note für den Mathe-Test zurückgab, fiel oft der Kommentar: „Da war deine Schwester jetzt aber besser.“ Oder: „Schau dir das mal bei deiner Schwester ab“ – als ob die andere der Maßstab wäre oder sie gleich gute Leistungen erbringen müssten.
„Ich habe angefangen, mich zu vergleichen, weil man immer verglichen wird. Das war hart“, sagt Jasmin. Zu der Zeit habe sie sich gewünscht, nicht in derselben Klasse wie ihre Schwester zu sein. „Wäre ich auf einer anderen Schule, würde man mich nicht als Zwilling sehen“, dachte sie damals.
Die Mutter: Als Jasmin und Evelyn auf die Welt kamen, war ihre Mutter 24 Jahre alt. Eine ungeplante Schwangerschaft, sie kam zu der Zeit von Polen nach Deutschland. Dass sie gleich zwei Kinder zur Welt bringen wird, sei für sie ein Schock gewesen, sagen ihre Töchter. „Wenn man so jung ist, hat man nicht so viel Geld auf der hohen Kante“, sagt Jasmin. „Und eine Zwillingsschwangerschaft ist immer eine Risikoschwangerschaft.“
Als die Kinder zwei Jahre alt waren, ließen sich die Eltern scheiden. Die junge Mutter war von da an alleinerziehend und musste viel arbeiten. Für ihre Töchter Jasmin und Evelyn ist sie das große Vorbild. „Wie sie das alles gemeistert hat, ist bemerkenswert“, finden sie. Fremdes Land, wenig Geld, Zwillingskinder, Scheidung. Gerade weil die Mutter viel weg war, sei ihr Zwillingsdasein Glück gewesen: „Wir waren nie allein“, sagen sie.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ende des Assad-Regimes
Momente, die niemand den Syrern nehmen kann
NGO über den Machtwechsel in Syrien
„Wir wissen nicht, was nach dem Diktator kommt“
Ende des Assad-Regimes in Syrien
Syrien ist frei
Unterstützerin von Gisèle Pelicot
„Für mich sind diese Männer keine Menschen mehr“
Paragraf 218 im Rechtsausschuss
CDU gegen Selbstbestimmung von Frauen
Trump und Selenskyj zu Gast bei Macron
Wo ist Olaf?