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Ganzheit statt Vereinzelung

Corona fordert die Lehre an Schulen und Hochschulen. Wie lässt sich der ganzheitliche Ansatz anthroposophischer Institutionen mit dem erforderlichen Abstand vereinbaren?

Von Cordula Rode

Der Lockdown traf ausnahmslos alle Schulen und Schulformen nahezu unvorbereitet und stellte Lehrkräfte, Schüler*innen und Eltern vor völlig neue Probleme, die nach schnellen Lösungen verlangten. „Da ging es uns erst mal nicht anders als allen anderen“, berichtet Henning Kullak-Ublick, Sprecher des Bundes der Freien Waldorfschulen. Technische Tools halfen, den Unterricht digital weiterlaufen zu lassen, was bei den älteren Waldorfschülern und -schülerinnen schnell und unkompliziert klappte. Schwieriger wurde es bei den jüngeren: Besonders in den unteren Klassen ist es das erklärte Ziel der Waldorfpädagogik, alle Sinne der Kinder anzusprechen, sie in ihrer Ganzheit wahrzunehmen und agieren zu lassen. „Unsere Klassenlehrer und -lehrerinnen, die über sechs bis acht Jahre feste Bezugspersonen der Kinder sind, haben alles darangesetzt, vor allem Sicherheit und Zusammenhalt zu vermitteln, über telefonischen Kontakt und die Verteilung der Aufgaben per Post oder persönlich“, erinnert sich Henning Kullak-Ublick, der selbst 26 Jahre lang Klassenlehrer an einer Waldorfschule war.

Digitale Medien nutzen

Trotz des enormen Engagements der Lehrkräfte ließ sich natürlich nicht alles auffangen. Der künstlerisch-musische Bereich, der in den Waldorfschulen eine fundamentale Rolle spielt, wurde durch den notwendig gewordenen Abstand in Mitleidenschaft gezogen. Sind viele handwerkliche Tätigkeiten auch allein zu Hause möglich, so stoßen die musikalischen Aktivitäten zwangsläufig auch nach den Lockerungen noch an ihre Grenzen. Orchesterproben im Freien sind eine kreative Notlösung – nicht aber im Herbst und Winter. Auch im Fremdsprachenbereich ist es für die Waldorfschulen komplizierter als für Regelschulen, auf den digitalen Unterricht umzusteigen – hier wird in den ersten Jahren ganz auf die rein mündliche Vermittlung gesetzt. Aber Krisen haben immer auch positives Potenzial, weiß Henning Kullak-Ublick: „Unsere Lehrkräfte haben sich in Webinaren vernetzt, Ideen geteilt, Anregungen gegeben und bekommen.“ Und dieser Austausch hat sich so gut bewährt, dass er auch in Zukunft fortgesetzt werden soll: „Quasi ein positiver Kollateralschaden“.

Auch in anderer Hinsicht birgt Corona viele Chancen. In den oberen Jahrgängen bietet die konfliktträchtige gesellschaftliche Situation gute Möglichkeiten, einen kritischen Blick auf persönliche Meinungsbildung im Spannungsfeld von Wissenschaft, Journalismus, Social Media und auch „Querdenkern“ zu werfen. Besonders von Letzteren distanziert sich der Waldorf-Vorstand ganz entschieden, so der Sprecher der BdFWS: „Selbstverständlich befolgen wir die angeordneten Schutzmaßnahmen. Die generelle Maskenpflicht im Unterricht halten wir allerdings in den unteren Jahrgängen nicht für sinnvoll – wir setzen lieber auf pädagogische Fantasie statt auf Restriktionen. Schulen brauchen sinnvolle Hygieneregeln, dürfen aber nicht zu Orten werden, an denen die Kinder und Jugendlichen von den elementarsten Voraussetzungen für ihre soziale, kognitive und gesundheitliche Entwicklung abgeschnitten werden.“

Auch an den Hochschulen hat die Pandemie die Lehrsituation zwangsläufig auf eine neue Basis gestellt. Der notwendige Umstieg auf digitale Unterrichtsmedien, der manche Einrichtung vor einige Probleme stellte, traf die Freie Hochschule Stuttgart gut vorbereitet: Seit 2018 gibt es dort den von Tessin-Lehrstuhl für Medienpädagogik. „Eine pädagogische Einrichtung wie die unsere, die auf dem menschlichen Miteinander beruht, wurde mit Beginn der Pandemie und dem Ausfall des Präsenzunterrichtes natürlich vor besondere Herausforderungen gestellt“, berichtet Tomáš Zdražil. „Besonders in den künstlerischen Fächern, die bei uns einen hohen Stellenwert haben, erwies sich anfangs der Online-Unterricht als schwierig.“ Die umfangreichen Studien des Lehrstuhls für Medienpädagogik boten dabei unverzichtbare Hilfe, die weit über das technische Know-how hinausging. „Medienpädagogik bedeutet nicht einfach, Pädagogik mit modernen Medien umzusetzen“, so Zdražil, „vielmehr geht es darum, umfangreiche und ganzheitliche Konzepte zu entwickeln, die die Menschen, besonders die jungen Menschen, befähigen, die Technik auf eine Weise zu nutzen, die bereichert, statt zu kanalisieren.“ Lesekultur, Kreativität und Motorik dürften nicht eingeschränkt, sondern müssten unterstützt und integriert werden. Die Forschungsergebnisse des Lehrstuhls kamen nicht nur den Waldorfschulen, die sich an einem eigens vom Lehrstuhl zusammengestellten Leitfaden orientieren konnten, zugute, sondern auch der Hochschule selbst. Online-Zeichenkurse und sogar Anleitungen im Bereich Eurythmie brachten selbst die künstlerischen Bereiche so gut wie möglich durch die schwierige Zeit des erzwungenen Abstands. Und in der Krise setzte die engagierte Hochschule keine Scheuklappen auf: Als die auf dem Gelände der Hochschule beheimatete Waldorfschule durch die Notwendigkeit kleiner Lerngruppen in Platznot geriet, stellte man ihr nicht nur Räume zur Verfügung, sondern vermittelte auch Studierende als zusätzliche Lehrkräfte.

Und auch mit dem Projekt „Studierende helfen Waldorfschulen“ schuf man eine Win-win-Situation an der Schnittstelle zwischen Schule und Hochschule. Rund 30 Studierende des Waldorfseminars waren dabei im praktischen Einsatz an verschiedenen Waldorfschulen und unterstützten in der kritischen Zeit des Lockdowns Lehrkräfte und Kinder. „Die Coronazeit traf an unserer Hochschule die Zeit des Praktikums. Drei Wochen waren die Studierenden nach den Osterferien an Waldorfschulen im ganzen Land gewesen“, erklärt Zdražil. Nun waren die Bedingungen zwar gänzlich andere als geplant, aber: „Die Studierenden waren hautnah dabei in der Praxis dieser Ausnahmesituation und konnten erleben, welche besonderen, außergewöhnlichen Situationen auch im Schulalltag entstehen können.“ In dieser Zeit, in der das Unterrichten der Kinder nur in kleinen Gruppen und quasi in Wechselschicht möglich war, sprangen die Studierenden dort ein, wo bei den Lehrkräften schlicht Kapazitäten fehlten. Und machten ganz neue und wertvolle Erfahrungen, wie Max Reschke, der an der Michael-Bauer-Schule in Stuttgart intensiv eine Förderschülerin betreute. „Das Kollegium an der Schule hat uns mit offenen Armen empfangen. Ich freue mich sehr, dass ich helfen konnte. Diese intensive Unterrichtssituation war auch für mich eine spannende Erfahrung“, sagt der Student.

Marianne Esger-Kraft, Lehrerin an der Michael-Bauer-Schule, ist voll des Lobes: „Die jungen Leute sind einfach in diese Situation hineingeschlüpft. Sie haben zu den Kindern ein enges Verhältnis aufgebaut. Und dieses Verhältnis ist ja die Grundlage allen Lernens. Sie sind mit großer Offenheit, mit Mut auf eine vollkommen unbekannte Situation zugegangen. Das war für uns eine große Entlastung, es ist wunderbar.“

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