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Zu Hause im Nirgendwo

Der Hamburger Autor Sascha Preiß hat fünf Jahre in Sibirien gelebt. Über die Mythen des Landes und über ihre echten Menschen hat er einen Erzählband verfasst, aus dem er kommende Woche vorlesen wird

Von Frauke Hamann

Es sind 7.329 Kilometer von Hamburg bis Irkutsk: dem „Paris des Ostens“, wie Anton Tschechow einmal schrieb. Die Stadt liegt in Sibirien, dem „Land der Verbannung“, das weit ist und weiß, fremd und brutal. Wie lässt sich von den Eigenheiten dieses schwach besiedelten Landes erzählen, das drei Viertel des russischen Staatsgebiets umfasst, von den fünftausend Kilometern Ferne zum Machtzentrum Moskau, von der Mitte Asiens, wo „es neun Monate im Jahr kalt und drei Monate saukalt ist“?

Sascha Preiß, der fünf Jahre im südsibirischen Irkutsk gelebt und gelehrt hat und jetzt in Hamburg wohnt, ist Autor des Erzählbandes „Sibirische Geschichten“ (Nox-Verlag). Es habe ihn lange beschäftigt, wie er die Erlebnisse seiner Sibirien-Zeit literarisch fassen könne, sagt er. Wollte er doch die Erkenntnismöglichkeiten des Schreibens mit seinen Erfahrungen in Einklang bringen.

Der Mythos Sibirien lebt durch Michael Strogoff, den „Kurier des Zaren“, durch Lara aus „Doktor Schiwago“, die nach Irkutsk flieht. Viel verdankt die Stadt am Baikalsee den Dekabristen, den adeligen Aufständischen gegen den Zaren, die, hierher verbannt, die geistig-kulturelle Entwicklung prägen. Preiß begegnet all den Sibirien-Klischees mit der Beobachtung alltäglicher Begebenheiten. Seine „Sibirischen Geschichten“ handeln vom Menschsein in unwirtlicher Umgebung, von der Kraft der Frauen und der Haltlosigkeit der Männer. Alkohol und Gewalt spiegeln Lebenshunger ebenso wie Verzweiflung.

„Es ist ein kaum gütig blickender Frühling unter der kalten Sonne“, schreibt Preiß in der „Frühlingsgeschichte“. Erst an Pfingsten öffnen sich die ersten Knospen. Vorher bewegen sich die Menschen in einer „überflutenden Welt voll Abfall und Morast“, sind lange Wochen bestimmt vom Gestank all dessen, was der Frost freigibt.

Elena aus Irkutsk arbeitet hart, um Geld zurückzulegen. Maxim, mit dem sie zusammenlebt, trinkt. Nach einer durchzechten Nacht mit seinen Freunden ist das mühsam Ersparte verschwunden. Elena stellt Maxim zur Rede, der attackiert sie, will sie abstechen. „Elenas Geschichte“ erzählt von dem Wunsch, auszubrechen aus der Plackerei. Die Angst vor Maxims Brutalität ist gepaart mit der Angst vor dem Alleinsein. Kein Ausweg, nirgends. Verzeihen sei das Wertvollste, was man geben könne, meint Elena. Aber sie spürt, „sie kann die Familie nicht schützen, nicht hier in der vereisten, stechenden, glänzenden Hölle. Sie wird alle ihre Angst zusammen nehmen müssen und von vorn beginnen, die Schachtel Monat für Monat neu zu füllen, nur so führt ein Weg hinaus.“

In „Artjoms Geschichte“ fahren fünf Männer in die weiße Weite zu einem Holzhaus, wo es selbstgebrannten Schnaps gibt und Würmer für den Fischfang. Wie Preiß die Stimmung in der Hütte, das exzessiv-ekstatische Trinken und die Enthemmung einfängt, die dazu führen, dass sie Oleg, einen der Gruppe, drangsalieren und schließlich allein zurücklassen, ist unbedingt lesenswert – keine schöne, aber eine wahrhaftige Geschichte. Ganz andere Blicke eröffnet die „Transsibirische Geschichte“. Sie gleicht einem Stillleben. Jedes Detail eines Abteils der Transsibirischen Eisenbahn wird beschrieben, die persönliche Habe der reisenden Frau, ihre Verpflegung während der neun Tage von Moskau nach Blagoweshzhensk. Beim Lesen ist all das zu sehen, zu riechen, zu schmecken.

„wurde geboren./war unterwegs./jetzt hamburg.“ So knapp porträtiert sich Preiß auf seinem Irkutsk-Blog. Pittoreskes liegt ihm nicht. „Ich schreibe keine Hymnen oder Reiseführer“, heißt es in „Meine Geschichte“, der letzten des Buches. Es lebt von einer Mischung aus Annäherung und Distanz, zeigt, wie die Natur Sibiriens die Menschen formt und bestimmt. In den letzten fünfzehn Jahren haben zwei der 38 Millionen Menschen das Land verlassen.

Sascha Preiß: „Sibirische Geschichten“, Nox-Verlag, 140 S., 18 Euro

Lesung „Mit Preiß und Posch nach Sibirien“: Di, 13. 10., 20 Uhr, Brakula, Bramfelder Chaussee 265, Hamburg

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