Hoch
hinaus
in der Vahr

Um neue Hochhäuser werden noch heute erbitterte Kämpfe geführt. Ende der 50er schuf man in Bremen mit dem Aalto-Hochhaus bitter benötigten Wohnraum – und zugleich Visionäres. Ein Blick auf die Geschichte und die etwas verschlafene Gegenwart des Hauses

Grundsteinlegung für das Aalto-Hochhaus war heute vor 61 Jahren. Bis in die 70er-Jahre war es das höchste Wohnhochhaus Deutschlands Foto: Selma Hornbacher-Schoenleber

Von Selma Hornbacher-Schönleber

Rolf Diehl wollte eigentlich nicht in die Vahr ziehen. „Und schon gar nicht in ein Hochhaus!“, sagt der Rentner. Er steht auf dem Aalto-Hochhaus, das mittlerweile unter Denkmalschutz steht. Es ist einer der wenigen Orte im flachen Bremen, von denen man einen weiten Ausblick über die Stadt hat. Erstaunlich viel Grün bedeckt die Flächen. 21 Wohnetagen, 189 Wohnungen, 65 Meter Höhe – es ist ein Haus, neben dem man sich klein fühlt, ohne erschlagen zu werden. „Es würden nicht Architekten aus der ganzen Welt kommen“, sagt Diehl, „wenn es nicht ein ganz besonderes Gebäude wäre.“

Am 18.September 1959 war Grundsteinlegung für das Gebäude. Eigentlich sei Alvar Aalto ein Hochhausgegner gewesen, erklärt Diehl. Das Hochhaus in der Vahr habe der finnische Architekt und Designer so entworfen, dass es den Bewohner*innen die Vorteile eines Einfamilienhauses bietet. „Individualität war ihm unglaublich wichtig.“ Diehl fährt die 22 Stockwerke mit dem Fahrstuhl herunter und tritt aus der Eingangshalle ins Freie. Vor der geschwungenen Westseite des Gebäudes deutet er auf die Fensterfronten. Jede Wohnung in einem Stockwerk sei anders, nur übereinander gleichen sie einander. Wie Tortenstücke werden die Wohnungen zur Fensterfront hin breiter. Von Westen her fällt die Abendsonne hinein. „Ein Feierabendhaus“, sagt Diehl, „die Ostseite ist viel schmaler.“ Aber nicht nur Individualität wollte Aalto für das Hochhaus: In jeder Etage mündet der Flur in einem Gemeinschaftsraum. Fensterfronten mit schmalen Rahmen erhellen den Raum von zwei Seiten.

Das Aalto-Hochhaus war der krönende Abschluss der Neuen Vahr. Als sie gebaut wurde, setzte die Wohnungsnot Bremen unter Druck: Vor dem Krieg gab es in Bremen 130.000 Wohnungen, danach waren es noch 60.000. 1956 wurde deshalb das „Gesetz zur Behebung der Wohnungsnot im Lande Bremen“ erlassen: 40.000 Wohnungen sollten innerhalb von nur vier Jahren gebaut werden. Ein Tempo, das auch gemessen an heutigen Maßstäben beeindruckend ist. Funktionaler, bezahlbarer Wohnraum in Stadtnähe und trotzdem im Grünen, das war die Idee der damaligen Vorzeigesiedlung. Die Wohnungen in der „Stadt der Zukunft“ waren begehrt, die Wartelisten lang. Die ersten „Vahraonen“ zogen schon ein, bevor es Straßen gab.

Wie Gebäude errichtet werden, sagt viel über den Zeitgeist aus. Und mit dem konnte die Vahr irgendwann nicht mehr so recht Schritt halten. Ab den 1970er-Jahren sinkt die Bevölkerungszahl im Stadtteil. Es gibt Probleme mit Vandalismus und Kriminalität, auch im Aalto-Hochhaus. 1997 wird eine Loge in der Eingangshalle eingebaut, die rund um die Uhr besetzt ist. Die einzelnen Stockwerke werden abgeschlossen, nur die jeweiligen Anwohner*innen haben noch Zutritt.

„Ein Feierabendhaus. Die Ostseite ist viel schmaler“

Rolf Diehl, Bewohner

Mittlerweile ist wieder mehr Ruhe ins Aalto-Hochhaus eingekehrt, die einzelnen Stockwerke bleiben aber verschlossen. Was macht das aus Aaltos Ideen? In vielen Stockwerken ist der Gemeinschaftsraum bis auf ein paar Pflanzen­kübel leer. Die Brandschutzverordnung schränkt den Gestaltungsspielraum der Mieter*innen ein. „Eine Metallbank könnten Sie aber dort hinstellen“, sagt Diehl. Neue Mieter*innen seien am Anfang oft motiviert, träumen von Lesungen und gemeinsamem Kaffeetrinken, erklärt Diehl. Aber wirklich passiert sei in den letzten Jahren kaum etwas. So unterschiedliche Menschen, wie sie hier wohnten, seien nicht so leicht zusammenzubringen.

Auf dem Stockwerk, in dem Diehl mit seiner Frau wohnt, ist der Gemeinschaftsraum jedenfalls mit Pflanzen, Fotos und Infotafeln zur Geschichte des Stadtteils dekoriert. Das Aalto-Hochhaus hat es ihm angetan. Er ist mittlerweile in der Denkmalpflege und für den Stadtteil aktiv. Am „Tag des offenen Denkmals“ hat er dieses Jahr eine digitale Führung gemacht, wegen Corona. Er wolle dazu beitragen, dass die Vahr weiterhin „Stadt der Zukunft“ bleibt, sagt er, „oder wieder richtig wird“.