Stefan Alberti erlebt, wofür eine Kirche auch noch gut sein kann: Politik vorm Kreuz
Ungewohnt sieht der Mann im Altarraum vor dem Kreuz im Hintergrund aus. Gut, evangelische Pfarrer haben es ja nicht so sehr mit dem ganz feierlichem Ornat wie ihre katholischen Kollegen. Aber ganz schlicht in Anzug und Krawatte? Doch halt, der Mann spricht nicht in Psalmen. Und er trägt auch nicht aus der Bibel vor. Von Tagesordnung spricht er, von Anträgen, von entschuldigten Mitgliedern. Ist das am Ende gar keine Kirche?
Doch, doch, das ist die nach dem Apostel benannte über 100 Jahre alte Paulus-Kirche in Zehlendorf. Da ist bloß keine Messe im Gange, und in den Bänken sitzen Politiker – wobei die ja auch Gläubige sein können. Der vermeintliche Pfarrer vor dem Kreuz und einem Relief vom Letzten Abendmahl ist auch kein Pfarrer, sondern der Vorsteher der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) Steglitz-Zehlendorf, René Rögner-Francke.
Zweimal haben die Bezirkspolitiker in Coronazeiten im üblichen Sitzungssaal im Rathaus getagt – aber nur in halber Stärke, weil nicht alle 55 Bezirksverordnete mit jeweils 1,50-Meter-Corona-Abstand in den Raum, den Bürgersaal, gepasst hätten. Sogenannte Pairing-Absprachen sorgten dafür, dass die Mehrheitsverhältnisse im schwarz-grün dominierten Bezirksparlament gewahrt blieben.
Jetzt aber sollte es an der Zeit sein, wieder mit allen 55 zu tagen. Die BVV ersuchte deswegen die Bezirksregierung um Bürgermeisterin Cerstin Richter-Kotowski (CDU), einen Raum zu suchen. Infrage kamen ein Hotel, Turnhallen – und die Paulus-Kirche. Passenderweise steht sie gegenüber dem Rathaus mitsamt dem üblichen Sitzungssaal. Ein Sitzungssaal übrigens, der es 2008 mal auf die Kinoleinwand geschafft hat: In der Verfilmung von Bernhard Schlinks Roman „Der Vorleser“, besetzt unter anderem mit Kate Winslett, dient er als Gerichtssaal.
An diesem Mittwochabend ist das alles weit weniger dramatisch oder glamourös. Ruhig und geordnet führt Parlamentsvorsteher Rögner-Francke durch die Tagesordnung. Besucher sind – anders etwa im Abgeordnetenhaus – zugelassen. In mancher Hinsicht bleiben die Zehlendorfer hinter anderen Bezirksparlamenten zurück: Eine Übertragung der Sitzungen via Streaming soll es auch weiterhin nicht geben, ist auf eine Einwohnerfrage von der Bürgermeisterin zu hören, unter anderem aus Datenschutzgründen. Die Sitzungen seien ja öffentlich. Und wer nicht kommen könne, dem stünden die Protokolle zur Verfügung.
Ob es weitere BVV-Sitzungen in der Kirche gibt, werde sich nach einer Auswertung des ersten Abends dort entscheiden, hatte Vorsteher Rögner-Francke vorher der taz gesagt. Am Sonntag um 10 Uhr wird jedenfalls erst mal wieder Gottesdienst sein, mit Pfarrerin und mehreren Taufen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen