Roy Anderssons „Über die Unendlichkeit“: Triste Blicke, schlaffe Körper
Ein Pastor, der an Gott zweifelt: Regisseur Roy Andersson bleibt auch im neuen Spielfilm „Über die Unendlichkeit“ seinem Langsamkeitsstil treu.
Die Filme von Roy Andersson haben den Vorteil, oder den Nachteil, dass man sie auf den ersten Blick als solche erkennt: So baut nur Andersson seine Bilder; so grau und verloren, aller nach oben strebenden Kräfte beraubt, sind die Menschen einzig bei ihm; so tropfhaft stehen nur Andersson-Wesen in Räumen, so statisch, an Gemälde, nicht an Fotografien erinnernd, sind die Einstellungen nur bei ihm komponiert. Und das gilt sogar da noch, wo es Abweichungen gibt, hier, im neuesten Film, der seiner ungewöhnlich kurzen Laufzeit zum Trotz den Titel „Über die Unendlichkeit“ trägt, zum Beispiel gleich zu Beginn.
Da nämlich fliegt einem ein Paar entgegen, Mann und Frau, beide nicht mehr ganz jung, eng umschlungen, um sie herum nichts als Nebel, ein bisschen wie bei Chagall, könnte man denken, aber eben: anderssongrau, an Gott, das Schöne und Transzendenz denkt man nicht. Weniger noch, wenn die beiden, nach anderen Einstellungen, keine davon heiter, fröhlich oder erfreulich, wiederkehren: Sie fliegen oder schweben noch immer, der Nebel freilich hat sich gelichtet, die Kamera tut, was sie bei Andersson sonst unterlässt, sie bewegt sich, auch sie schwebt oder fliegt langsam, von der rechten Seite zur linken, man sieht von oben eine Stadt mit Fluss und Kirche mit noch hochragenden Türmen, sonst aber ist in dieser Stadt alles in Trümmern. Die Häuser sind graue Gerippe, alles Schutt, alles Asche.
Es spricht eine Stimme. Es ist die Stimme, die in „Über die Unendlichkeit“ in vielen Szenen spricht, eine weibliche Stimme, sie sagt immer als Erstes: „Ich sehe.“ Das, von dem sie sagt, dass sie es sieht, sehen wir in der Folge dann auch. Es ist, als rufe die Stimme die Bilder herbei, sie kündigt sie an, sie kommen verlässlich, aber es ist nicht die Stimme Gottes, auch wenn sehr unklar ist, was für eine Instanz das ist, die hier spricht.
Und was dann kommt, ist ausnahmsweise zwar auch einmal Hitler, aber nicht der Messias. Obwohl. In einer Szene nämlich, es ist eine staubige, gewunden ansteigende Straße zu sehen, Menschen stehen auf dem Bürgersteig, wartend, erscheint ein älterer Herr mit Dornenkrone auf dem Kopf und riesigem Kreuz auf den Schultern. Er wird mit Knuten geschlagen, kreuziget ihn, rufen die Menschen.
„Über die Unendlichkeit“. Regie: Roy Andersson. Mit Martin Serner, Jessica Lothander u. a. Schweden/Deutschland/Norwegen 2019, 78 Min.
Das allerdings ist ein Traum. Zwar sind alle Szenen in Andersson-Filmen eine Art Träume, Ausgeburten einer Fantasie, die bevorzugt gerade das Alltägliche und Banale zombiehaft unterhöhlt. Die Kreuzigungsszene jedoch, nicht anders inszeniert als das dem Anschein nach Reale, ist als Traum markiert. Den, der ihn träumt, kennt man schon, er ist, oder wäre, wenn es das gäbe in einem Andersson-Film, der Protagonist. Allerdings haben Andersson-Filme keine Protagonisten, der Zusammenhalt ist bestenfalls lose, was an Bedeutung in den Traumbildern und Konstellationen, den tristen Blicken und schlaffen Körpern, dem ergrauten Innen und dem ergrauten Außen zu erkennen ist, ist nicht narrativ zu erschließen.
Der Priester jedoch trägt das Elend der Welt. Bevor er zur Kommunion Brot und Wein gibt, nimmt er im Nebenraum rasch selbst noch einen großen Schluck aus der Pulle und gerät bei der Verteilung von Leib und Blut Christi gehörig ins Wanken. Er hat einen Termin beim Therapeuten, der auch eine Wurst ist, Wurst unter Würsten; als er ihn dann ohne Termin aufsucht, drängt dieser ihn gemeinsam mit der Sprechstundenhilfe gleich wieder zur Tür hinaus. Es sind diese Szenen kaum je ohne Komik, kaum je ohne Tragik, irgendwo zwischen Loriot und Christoph Marthaler angesiedelt. Was ausbleibt: Pointen.
Er wird geliebt oder gehasst
Das ist anders als in den Werbefilmen im selben Stil, die Andersson lange, um Geld zu verdienen, gedreht hat. Begonnen hatte er anders, sein erster Film „A Swedish Love Story“ von 1970 war von einem lebendigen Impressionismus. Aber nicht das, was er wollte, sagte Andersson später. Sein Zweitling, „Giliap“, war dann schon auf dem Weg zu dem Andersson, den man kennt. Wurde aber ein Flop, ganz lange Pause, hunderte Werbefilme, im Jahr 2000 dann, 25 Jahre nach dem letzten Spielfilm, „Songs From the Second Floor“, da ist der Regisseur schon fast sechzig. Ein großer Erfolg, die Festivals laden ihn ein, die einzigartige Ästhetik wird geliebt oder gehasst.
Zwischen den Filmen, die nun folgen, vergeht viel Zeit, meist sieben Jahre, diesmal nur fünf, aber „Über die Unendlichkeit“ ist kurz, es gibt, anders als sonst, auch keine Szenen, die sich monströs auswachsen, in denen die Dauer selbst noch zu einer weiteren Dimension wird. Dennoch: Andersson arbeitet ewig an jeder einzelnen, nur ein paar Minuten dauernden Szene, oft einen Monat, manchmal noch länger. Und das sieht man. Sei es die Kneipe drinnen, und wie stets gibt es auch in diesem Film eine Kneipe, in der ein Mann ohne jeden Anlass in den Ausruf „Es ist alles fantastisch“ ausbricht; oder sei es die Straße draußen, hier tanzen einmal drei Frauen vor einem Café.
Jedes Bild sieht aus wie gemalt, und in der Tat kommen Anderssons Vorbilder nicht aus dem Film, sondern aus der Kunst, Otto Dix und George Grosz nennt er gern. Jedes Detail ist getüftelt, jede Bewegung auf den Millimeter geprobt, alles einer strikten, ins Cremiggraue gehenden Farbregie unterworfen. Das Dokumentarische, der Zufall, gar die Improvisation: Sie haben in den Filmen von Andersson nicht den Hauch einer Chance.
Der Vorteil gegenüber dem Gemälde, und darauf muss man bei der Kunst namens Kino auch erst einmal kommen, ist, Finanzierung vorausgesetzt, die noch ausgeprägtere Kontroll- und Revisionsmöglichkeit. Man kann jede Szene, wenn es sein muss, zwanzigmal drehen, und öfter, bis alles so ist, wie der Künstler es will. (Und die Postproduktion gibt es auch noch.)
Die Filme von Roy Andersson bewegen sich auf einem schmalen Grat. Auf der einen Seite geht es hinab zum reinen Kunsthandwerk, zu perfekt ausgearbeiteten Einstellungsfolgen, in denen alles stimmt, aber nichts mehr lebt. Auf der anderen Seite hinauf zum bedeutungsschwangeren Raunen: Das Graue, Entschleunigte, das Leiden des Priesters am Glaubensverlust, das will uns doch bestimmt etwas sagen über Leben und Tod, also Existenzielles. Und durchaus stürzt immer mal wieder eine Szene in den Andersson-Filmen nach unten oder nach oben. In den schlechteren Filmen sind es gar nicht so wenige.
Wenn es aber gelingt, die Waage zu halten, wenn sich die Stimmung, die Figuren, die Komposition, die kontrollierte Bewegung, die Eigenlogik des Ganzen zu einem komplexen ästhetischen Eindruck glücklich verbinden, wenn diese Verbindung sich dann durch unterschiedliche Mischungen der Eindrücke und Gefühle von einer Szene zur nächsten aufs Eigentümlichste wandelt, wenn alles sich ähnelt, aber nichts ganz wie das andere ist: Dann ist das groß.
In „Über die Unendlichkeit“ bleibt dieses Gelingen leider oft aus. Der Flug über die Stadt in Ruinen ist ein solcher Moment, auch der einsame Rufer in der alles andere als fantastischen Kneipe. Viele andere Szenen dagegen bleiben belanglos, zu viele scheinen aus dem bisherigen Werk fade vertraut. Aber dass das Gelingen heikler ästhetischer Dinge sich nicht von selbst versteht, sondern ein Glück ist, das auch der Schöpfer nicht in der Hand hat, das ist ein in jedem Einzelfall schwacher, aber im Ganzen ein triftiger Trost.
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