Nach Brand im Flüchtlingslager Moria: Merkels Angst vor ihrer Courage
Die Kanzlerin wird noch immer für ihre Flüchtlingspolitik von 2015 gelobt. Will sie dem gerecht werden, muss sie jetzt beherzt und ohne Kalkül handeln.
F lammen und Schreie, Panik und Schmerz – was den Menschen im Lager Moria auf der Insel Lesbos geschehen ist, ist eine Katastrophe mit Ansage. Seit Monaten haben HelferInnen davor gewarnt, dass die Lage dort eskalieren könnte. Nun ist es passiert. Das Lager – für 2.800 Menschen geplant, aber mit mehr als 12.000 komplett überbelegt – ist abgebrannt.
Die Menschen, unter ihnen Kinder und mit Corona Infizierte, sind nun obdachlos. Und die Bundesregierung? Bietet Griechenland Hilfe an und verweist auf eine gesamteuropäische Einigung, die es nicht gibt und nicht geben wird. Die Geflüchteten sind zum europapolitischen Spielball geworden.
Es ist eine Schande, wie in Berlin getan wird, als könne man mit Telefonkonferenzen, neuen Wohncontainern und besserem Brandschutz zur migrationspolitischen Tagesordnung übergehen. Deutschland hat aktuell die EU-Ratspräsidentschaft inne, die Ratspräsidentin heißt Angela Merkel. Also jene Frau, die weltweit für ihre humane Haltung im Flüchtlingssommer 2015 gelobt wird. Nun, im Herbst 2020, ist aus dem Kanzleramt zu hören, man suche noch nach einer „soliden Lösung“.
Für die Bundesrepublik Deutschland steht Moria ganz konkret für die Angst ihrer politischen VertreterInnen vor selbstbewussten Entscheidungen. Es gab und gibt die Bereitschaft einiger Bundesländer, Menschen aus Moria ins Land zu holen. Doch CSU-Innenminister Horst Seehofer hat ihnen das untersagt. Noch Anfang dieser Woche haben Parteien und Hilfsorganisationen unter dem Motto #WirHabenPlatz 13.000 Stühle auf die Rasenfläche vor dem Parlament gestellt. Reaktion aus dem Kanzleramt gegenüber: null.
Das hat System. Erst vor anderthalb Wochen hat Angela Merkel in der Bundespressekonferenz auf die Frage nach Moria geantwortet: „Wenn sich in Europa herumspricht, dass alle Flüchtlinge, die jetzt zur Debatte stehen, von Deutschland aufgenommen werden, werden wir nie eine europäische Lösung bekommen.“ Im Übrigen ahne sie, dass die Unterbringung und Versorgung geretteter Minderjähriger auch vom Bund finanziert werden müsste. Das müsse man „gesamtgesellschaftlich abwägen“.
Merkels unterkühlte Wortwahl erinnert an ihre Begegnung mit dem Flüchtlingsmädchen Reem Sawhil 2015. Der staatenlosen 15-Jährigen sagte die Kanzlerin damals, dass sehr viele Menschen Asyl beantragen und manche Asylbewerber, wohl auch sie, zurückgehen müssten. Dem weinenden Mädchen tätschelte sie die Wange. Fünf Jahre danach bezahlen die Geflüchteten, die sich jetzt gedulden sollen, das Zögern Europas mit ihrer Gesundheit – oder mit dem Leben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Abschiebung von Pflegekräften
Grenzenlose Dummheit
Plan für Negativ-Emissionen
CO2-Entnahme ganz bald, fest versprochen!
Human Rights Watch zum Krieg in Gaza
Die zweite Zwangsvertreibung